Foucault, Michel, 2009, History of Madness, New York und London, Routledge. Mit Vorwort von Ian Hecking und einer Einleitung von Jean Khalfa |
Schon früh beschäftigte sich Foucault, der u.a. Psychologie studierte, mit psychischer Krankheit und der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit. Die vielleicht bedeutsamste Frucht, die diese Auseinandersetzung trug, war ein Teil seiner Dissertationsschrift(en), welche 1973 auf Deutsch unter dem Titel Wahnsinn und Gesellschaft veröffentlicht wurde. In ihr beschäftigt sich Foucault mit der Beziehung der beiden titelgebenden Entitäten zueinander, und wie sich das Phänomen des Wahnsinns zusammen mit der Gesellschaft, aus welchem es hervorgeht, in den letzten Jahrhunderten verändert hat. Foucault arbeitet auf ganz eigene Weise sehr nah an der Geschichte des Begriffes Wahnsinn und verschiedenen Perioden seiner Entwicklung. So teilt Foucault, wie auch in seinen späteren Werken, die Zeit zwischen dem Mittelalter und der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Perioden Renaissance, Klassik und Moderne, woraufhin er in diesem Werk das jeweils gesellschaftlich vorherrschende Verhältnis zum Wahnsinn untersucht.
In der Renaissance nahmen „die Irren“, wie sie teilweise im Buch genannt werden, eine Position am Rande der Welt und der Gesellschaft ein.
Ihr Wahnsinn ist charakterisiert durch den Grenzübertritt des sozialen sowie des kosmologischen Raumes. Das heißt, der schicksalhafte Lauf ihres Lebens wurde gesehen als ein Bild für den Lauf der Dinge als Ganzes. Die Tragik ihres Wahnsinns bettet sich nahtlos ein in das Weltbild schicksalhafter Notwendigkeiten, welches im Mittelalters und auch noch in der Renaissance vorherrschend war. Die Übertretungen bzw. jenes „Abwandern“, die ihr Leben zeichnen, sind vielleicht am eindringlichsten symbolisiert durch den Tropus und die tatsächliche historische Praxis des Narrenschiffs, auf welches Wahnsinnige verbannt wurden und mit dessen Beschreibung Foucault sein Buch beginnt.
Letztlich will Foucault zeigen, dass sich laut damaliger Weltanschauung in der Figur des Narren die „mysteriösen Kräfte der kosmischen Tragödie“ zeigen. So hat der Wahnsinn in der Renaissance auch eine Art kritisches Potential: Er zeigt die Kluft zwischen dem, was Menschen vorgeben zu sein und was sie wirklich sind.
In der Klassik dagegen—auf die sich die Analyse mit dem Titel Folie et Déraison. Historie de la folie à l'âge Classique fokussiert—wird das Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn strikt gegensätzlich. Denn die Klassik sieht Wahnsinn (folie) als Unvernunft (déraison), d.h. die komplette Abwesenheit von Vernunft. Statt am Rande der Stadt toleriert oder auf dem Schiff an die Grenze der Welt geschickt zu werden, befindet sich der Irre in der Klassik eingeschlossen in den inzwischen verlassenen Leprosorien. Diese Orte außerhalb der Stadt, die während dem Mittelalter die Leprakranken beherbergten, werden in dieser Zeit genutzt, um den Gegensatz zwischen dem Innen der Vernunft und dem Außen der Unvernunft auch durch räumliche Distanz zur übrigen Gesellschaft zu zementieren. Jedoch insistiert Foucault, dass die klassische Perspektive auf den Wahnsinn noch keine medizinische ist, wie sie heute gängig ist: Wahnsinn stelle in erster Linie einen moralischen Defekt dar, und der Prozess einer möglichen Heilung müsse darum ebenso ein moralischer sein.
In der ungekürzten ersten Fassung illustriert Foucault dies mit einer Stelle aus den kartesianischen Meditationen, in der das sprechende Subjekt seine eigene Vernunft befragt und mögliche Gründe sucht, warum diese eingeschränkt oder illusorisch sein könnte. Sinngemäß komme das kartesianische Subjekt dort zu dem Schluss, dass es nicht nur nicht verrückt ist, sondern gar nichts mit Verrückten gemein habe könne, argumentiert Foucault. Diese radikale und nicht weiter begründete Abgrenzung des Verrücktsein von der Vernunft ist für ihn darum emblematisch für die klassische Konzeption des Wahnsinns.
Dies ändert sich in der Moderne mit der Entstehung von spezialisierten psychiatrischen Krankenhäusern—damals noch oft Asyl genannt—um 1800 herum. Was teilweise als große Befreiung der Irren gefeiert wurde ist für Foucault nur das Erscheinen einer „neuen Trennung“.
Mit diesen Veränderungen einhergehend ist ein gewandeltes Bild derer, die diese Institution bewohnen: Sie stellen nicht mehr ein negatives Spiegelbild der Vernunft dar, sondern werden als ihrer eigenen Natur des Menschseins verfremdet verstanden. Diese Verfremdung ist bedingt durch das ‚Dispositiv‘ des Wahnsinns als Geisteskrankheit, also dessen positiven Charakterisierung als medizinisch-naturwissenschaftliches Phänomen und Problem, welches im Gegensatz zur Klassik vollständig geschieden von moralischen Aspekten auftritt. Weg fällt auch der Bezug des Wahnsinns zur kosmischen Wahrheit: Irre seien Menschen nicht aufgrund ihrer schicksalhaften Symbolhaftigkeit oder durch Abwesenheit der Universalie der Vernunft, sondern weil sie als Individuen eben wahnsinnig seien, d.h. ihr individuelles menschliches Sein, als wahnsinniges, ein von der normalen Menschlichkeit verfremdetes sei. Eine von Foucaults wichtigsten und vielleicht einflussreichsten Eingebungen war es, dass diese Entwicklung nur möglich war, da die Irren während der Klassik in den Leprosorien eingesperrt und damit dem sich formenden medizinischen Blick zugänglich gemacht wurden.
Die Hauptthese von Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft könnte man so zusammenfassen: Wahnsinn ist nicht nur ein medizinisch-naturwissenschaftliches Phänomen und ein geschichtliches, sondern Wahnsinn als medizinisch-naturwissenschaftliches Phänomen ist ein geschichtliches.[1] Es gibt keine naturwissenschaftliche Wahrheit des Wahnsinns, die von ihrem geschichtlichen Kontext unabhängig ist. Darum ist auch der deutsche Titel Wahnsinn und Gesellschaft gut gewählt:
Denn dieser gesellschaftliche Kontext besteht für Foucault v.a. aus den vorherrschenden Diskursen, also das was er später Episteme oder historisches a priori nennen wird, und den dazu gehörenden gesellschaftlichen Praktiken (des Ausschlusses, der Verbannung, etc.).
Dabei darf nicht übersehen werden, dass dies eine doppelte Intervention ist: Foucault bricht sowohl mit vorherrschenden Konzeptionen des Wahnsinns als auch mit damals gängigen Methodologien der Geschichtsschreibung, insbesondere jenen, in denen ein gewisser Ausgang der Geschichte angenommen oder vorausgesetzt wird. Damit bricht Foucault mit dem vorherrschenden Geist in der (Philosophie der) Geschichte, die sich insbesondere auch Geschichtsmodelle wie Hegels und Marxens berufen um die geschichtliche Notwendigkeit oder Unausweichbarkeit—beispielsweise einer Revolution—zu behaupten und eventuell aus dieser Notwendigkeit die Rechtfertigung ihres Handelns ziehen. Foucault hingegen geht es nicht darum eine Geschichte zu schreiben über diejenigen die sowieso handeln und sprechen, sondern, wie er in seinem bekannten Ausspruch selbst sagt, geht es ihm darum, das „Schweigen“ des Wahnsinns zu untersuchen, also jene Phänomene zu Wort kommen zu lassen, die sonst marginalisiert werden. So hofft Foucault die Trennung von Wahnsinn und Vernunft bzw. Wahnsinn und Gesellschaft erklären und problematisieren zu können, statt sie einfach zu reproduzieren. Die historiographische Intervention liegt damit auf der Hand:
Es geht Foucault darum, diejenigen gesellschaftlichen Praktiken (wie z.B. des Ausschlusses der Irren) aufzudecken, die den analysierten Diskursen und (Wert-)Urteile zugrunde liegen, statt, wie sonst, diese Diskurse und Urteile perfiderweise als Berechtigung und Ursprung für eben jene Praktiken und die Trennung zwischen Irren und Nicht-Irren, Normalen und Aussätzigen zu sehen.
Viel an Foucaults Werk fasziniert: die detailreichen und literarisch ansprechenden Schilderungen und Aufarbeitungen des historischen Materials, das Infragestellen vieler scheinbarer Selbstverständlichkeiten über „die Irren“ und dadurch auch „uns“ als Gesellschaft, und die Überzeugtheit, mit der beides vorgetragen und miteinander verbunden wird. Foucaults Projekt ist ambitioniert: Er will nicht nur den gesellschaftlichen Blick auf psychische Krankheit verändern, sondern auch das gesellschaftliche Selbstbild; nicht nur eine neue Geschichte erzählen, sondern die Methoden der Geschichtsschreibung verändern; nicht nur kritischen Gebrauch seiner Vernunft machen; sondern den Diskurs der Vernunft selbst kritisch beäugen. (Nicht umsonst wird sich Foucaults weiteres Oeuvre mit grundlegenden Konzepten wie der Sprache, dem Wissen, der Geschichtsschreibung und nichts weniger als der Frage nach der Wahrheit selbst beschäftigen.) Foucault macht sich nicht nur damit intellektuell außerordentlich angreifbar. Aber es ist gerade dieser Rundumschlag auf mehreren Ebenen, der sein Projekt auszeichnet und der sein Denken so revolutionär und in vielerlei Hinsicht fruchtbar macht.
Dazu gehören auch die Kontroversen, die dieses Werk hervorgerufen hat. Die bekannteste derer dürfte diejenige mit Derrida sein, der einst ein Schüler Foucaults war und der mit einem Vortrag 1963 eine längere Auseinandersetzung mit Foucaults Analyse des Wahnsinn losgetreten hat, die sich u.a. um drei zentrale Fragen drehte: i) die Deutung des oben erwähnten Ausschnittes aus den Meditationen; und den beiden übergeordneten und miteinander verbundenen Fragen ii) nach der (Un-)Möglichkeit einer Geschichtsschreibung wie Foucault sie versucht und iii) inwiefern Foucault selbst den Wahnsinn anders behandelt als die vor ihm.[2] Im Wesentlichen stellt Derrida Foucault die Gretchenfrage: "Lieber Foucault, wie halten Sie es denn mit Wahnsinn und Vernunft? Wirklich anders als diejenigen, die Sie kritisieren? Oder ist die ihrige Methode nicht offensichtlich nur ein neues Gefängnis für den Wahnsinns?“, wenn erst einmal jene „transparente Folie [sheet]“ sichtbar würde, die laut Derrida zwischen Foucaults Diskurs und dem Wahnsinn steckt.[3]
Und ist es für einen Text wie Foucaults nicht doch notwendig anzunehmen, dass es ein gewisses Moment des Denkens gibt, welches nicht auf die von Foucault analysierten physischen und sprachlichen Handlungen reduzierbar ist, so wie Foucault laut Derrida vorgibt? Falls dies so ist, und Wahnsinn mehr als die Summe der gesellschaftlichen Praktiken ist, welche ihn laut Foucault charakterisieren, wie kann Wahnsinn dann beschreiben werden nur anhand dieser geschichtlichen Phänomene?
Ungeachtet dieser teils noch immer diskutierten Fragen ist Foucaults Einfluss auf das Denken nach ihm schwer zu überschätzen. Mit seinem großen Einfluss einher geht aber leider nicht immer, dass er richtig oder gar auch nur plausibel interpretiert wurde und wird. Eine Schwierigkeit im Denken Foucaults ist, dass er in einer Art Radikalisierung des phänomenologischen Ansatzes die Diskurse, die er analysiert, nicht nur einfach sondern doppelt „klammert“. Damit meinen die Kommentatoren Rabinow & Dreyfus, dass er sich bewusst nicht darauf stützt, was den zu analysierenden Diskursen ihre Wahrheit verleiht, wie Phänomenolog:innen dies klassischerweise tun, sondern auch ihre Bedeutung hinterfragt.[4] Das heißt Foucault will in erster Linie nachvollziehen, wie Wahnsinn beschrieben wird und ist darum bemüht, strikt außerhalb der untersuchten Diskurse und den ihnen eigenen möglichen Sprech- bzw. Subjektposition zu bleiben. Deren Wahrheit oder Aussagekraft soll befragt werden, und nicht reproduziert oder vorausgesetzt werden.
Dies macht es erst einmal schwer, eine, wenn nicht die für viele wichtigste Frage in Bezug auf dieses Werk zu beantworten, die auch in der Auseinandersetzung mit Derrida verhandelt wird: Inwiefern kann man seitens Foucault von einer Kritik an Konzeptionen des Wahnsinns sprechen. Foucault hätte diese Frage wohl an verschiedenen Zeitpunkten seiner Entwicklung verschieden beantwortet.
Aus der Perspektive des sich bis zur Archäologie des Wissens immer weiter radikalisierenden Haltung Foucaults, auf der Suche nach Beschreibungen autonomer diskursiver Strukturen ohne Rekurs auf Wahrheit oder Bedeutung der zu untersuchenden Diskurse, mag sich die Idee einer Kritik im gängigen Wortsinne gänzlich verbieten. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Foucault nicht kritisch ist, nur dass Wahnsinn und Gesellschaft keine Kritik im alltagssprachlichen Sinne ist. Um es etwas salopp zu sagen: Foucaults Ziel ist es, einzelne Ansichten von Wahnsinn zu besprechen, sondern er möchte über die diskursiven Strukturen sprechen, die diese Ansichten hervorbringen, und analysieren, welche gesellschaftlichen Praktiken dem zugrunde liegen. Weil er aber eben damit die argumentative Ebene der Texte verlässt, kann er gemäß seiner eigenen beschreibenden „archäologischen“ Ansprüchen auf dieser Ebene keine Verbesserungsvorschläge oder (gar utopistische) Gegenentwürfe anbieten.
Foucault eigene Zurückhaltung hat leider andere Menschen nicht daran gehindert, selbiges doch zu tun — und wenn nicht im Namen Foucaults, so doch in der Überzeugung, durch Foucaults Schriften legitimierte Kritik zu äußern.[5] Nichtsdestotrotz, und vielleicht gerade deshalb, entsagt Foucault im zweiten, 1972 veröffentlichten Vorwort explizit jener „Monarchie des Autors“, in welcher letztere:r allein über die ‚wahre‘ ‚Bedeutung‘ eines Textes bestimme.[6] Was für manche eine grenzenlos postmoderne Geste des Relativismus sein mag, sollte meiner Meinung nach als eine Explikation eines sowieso sich vollziehenden Prozesses und Geste intellektuellen Demuts verstanden werden, die einen Möglichkeitsraum eröffnet, Diskurse in einer Tiefe zu hinterfragen, die sonst schwer zugänglich bleibt. Es mag sein, dass so manch krude oder verkürzte Interpretation von Foucaults Argumenten letztinstanzlich unwidersprochen bleibt. Foucault will ermutigen, seinen Impetus des Infragestellens „unseres“ Umgangs mit den Begriffen von Wahnsinn und Vernunft und deren praktische Konsequenzen aufzugreifen, auf seinen Nutzen und Nachteil für unser Leben abzuklopfen, und weiterzuführen, ohne gegen die Institution des Autors und dessen vermeintlichen Willen anschreiben zu müssen, wie so oft in der Geschichte der europäischen Philosophie geschehen ist.
Um diesem Impetus gerecht zu werden, hat Foucault selbst seine Positionen mehrfach, teils radikal, überarbeitet. Darum entstand eventuell auch der Eindruck, Wahnsinn und Gesellschaft werde auf gewisse Weise von Foucaults späterem Werk überholt und sei irrelevant, und damit vielleicht eher von historischem Interesse.
Dem würde ich entgegen halten, dass im vorliegenden Werk beide Methoden Foucaults—die Archäologie, auf die er sich erst versteifen wird, und die Genealogie, welche er entwickelt, um die der Archäologie inhärenten Probleme zu lösen—in statu nascendi zu beobachten sind und mehr oder weniger auf Augenhöhe ein gemeinsames Interesse verfolgen. Auch wenn dies „offen lassende“ Haltung hinter die praktisch-institutionelle, vernunfttheoretische und metaphysische (siehe Derrida-Streit) Relevanz zurücktreten mag, so ist Wahnsinn und Gesellschaft dennoch auch für die Erforschung und Weiterentwicklung von Foucaults Methode von großem Interesse.
Gerade letzteres hat sich auch als notwendig erwiesen, weit über die Grenzen von Foucaults eigenen Revisionen hinaus. Wie zum Beispiel aus feministischen Kreisen schon lange und zurecht moniert wird, ist eine große Schwachstelle in Foucaults Werk, dass seine Analysen nicht intersektionell sind, d.h. sie beziehen sich selten auf nicht-männliche, nicht-weiße, etc., Subjekte.[7] Das männliche, weiße, europäische Subjekt wird damit regelmäßig und strukturell als universelles Subjekt (voraus)gesetzt. Dies gilt auch für eine Analyse der Psychiatrie, die darüber hinaus wenig bis gar nicht auf die durchaus vorhandenen und wichtigen Aspekte ihres Gebrauchs als Werkzeug der Kolonisierung eingeht.[8] Glücklicherweise beginnt sich dies nun langsam zu ändern, insbesondere durch historische Analysen mit diesem Schwerpunkt ([9][10][11])und konzeptuell durch einen Dialog ([12][13][14]) mit u.A. den Schriften des schwarzen Psychiaters und Philosophen of colour Frantz Fanons [15], welcher eine längst überfällige Auseinandersetzung mit dem Rassismus und Kolonialismus europäischen Denkens angestoßen hatte. Dieser Dialog lehrt allerdings auch, dass dies erst der Anfang einer intersektionalen und dekolonialen (und damit vollständigeren) Perspektive auf Psychiatrie sein wird, deren Geschichte langsam besprochen [16], aber im (Selbst-)Verständnis der Psychiatrie noch lange nicht ausreichend reflektiert wird. [17]
Für all diese Zwecke ist es allerdings notwendig, dass Interessierte sich ein vollständiges und unverfälschtes Bild vom Gesamt-Text machen können. Aufgrund einer komplizierten Verlags- und Übersetzungsgeschichte ist dies für das nicht-französischsprachige Publikum erst seit 2009 der Fall. Der große Vorzug dieser 2009 veröffentlichen Version ist es, dass sie, anders als fast alle Versionen vor ihr, ob französischsprachig oder nicht, ungekürzt ist, und alle verschiedenen Vorworte enthält, sowie Foucaults Antworten auf Derridas Kritik. Auch die dt. Suhrkamp-Ausgabe ist leider „mit Einverständnis des Autors geringfügig gekürzt“ und beinhaltet nicht alle relevanten Texte.[18] Zum ersten Mal erschließt sich einem nicht-französischsprachen Publikum so vollständig das gesamte textuelle Ereignis von Wahnsinn und Gesellschaft; liebevoll übersetzt und versehen mit einem Vorwort und einer Einleitung, die dem Text und seiner Bedeutung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Debatten rundum Wahnsinn und Geschichtsschreibung absolut gerecht werden.
Michel Foucault (*1926) studierte an der École normale supérieure Philosophie und Psychologie, lehrte daraufhin einige Jahre und besuchte Krankenhäuser, u.a. um Arzt-Patient:innen-Beziehungen zu studieren. Danach promovierte er bei dem Wissenschaftshistoriker und -theoriker Georges Canguilhem, u.a. mit seiner Schrift zu Wahnsinn & Gesellschaft. Im Laufe seines Lebens sollte er noch einige weitere bedeutende Werke verfassen: Neben Wahnsinn & Gesellschaft sind dies die Ordnung der Dinge, die Archäologie des Wissens, Überwachen & Strafen und die mehrbändige Geschichte der Sexualität, in der es weniger um die Geschichte sexueller Akte geht, sondern um die Geschichte derjenigen Praktiken, und das Selbstverständnis mit der sie ausgeführt werden, durch welche sich das (europäische) Subjekt formt. Für die Medizin interessant ist auch seine Studie Die Geburt der Klinik, in welcher er die Entwicklung der Medizin als Wissenschaft und der Institution des (Lehr-)Krankenhauses Ende des 18. Jahrhunderts engführt.
Bei aller methodologischer Weiterentwicklung im Laufe seines Werks ist Foucault in seinen Studien immer bemüht, nachzuzeichnen, wieso scheinbar selbstverständliche oder natürliche Dinge und Begriffe so (geworden) sind, wie sie sind. Dieses Interesse zieht sich von seinen ersten Veröffentlichungen bis zum posthum erschienen vierten Band der Geschichte der Sexualität. Am nachhaltigsten ist Foucaults Einfluss auf das Denken unserer Zeit durch seine Theoreme zur Macht, zu deren Verwicklung mit Wissen und Wissenschaft, und durch den Begriff der Biopolitik, welchen er geprägt hat. Er hat des weiteren wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung postmoderner und poststrukturalistischer Positionen rundum Themen wie Objektivität, Humanismus und menschlicher Natur geleistet, ohne sich je in eine dieser Kategorien einzuordnen.
Nach einigen Wanderjahren wurde Foucault an den höchsten und prestigeträchtigsten akademischen Lehrkörper in Frankreich berufen, das College de France. Dort konnte er eigenverantwortlich forschen, unter der Bedingung, jedes Jahr eine öffentliche Vorlesung zu geben. Diese waren eines der meist besuchtesten Anlässe des Pariser intellektuellen Lebens und bieten noch heute, bearbeitet und verlegt als Bücher, eine detaillierte Aufzeichnung seiner Einsichten und der Entwicklung seines Denkens zu verschiedenen Themen. Dort lehrte er, mit einigen Unterbrechungen, bis ans Ende seines Lebens.
Foucault verstarb 1984 im Zuge der AIDS-Pandemie.[19] Er betätige sich in vielerlei Form auch politisch. So gründete er unter Anderem eine einflussreiche Gruppe, die sich mit Haftbedingungen beschäftigt und äußerte zeitlebens (linke) Kritik an der kommunistischen Partei. Auch wenn Foucault, wie er selbst sagt, sein Leben lang „auf gewisse Weise versucht hat, intellektuelle Dinge zu tun, die schöne Männer beeindrucken“, so kann sein Werk doch schwerlich auf seine Homosexualität reduziert werden, welche er offen auslebte.[20] Ebenso wenig wird es Foucault und seinem Werk gerecht, sein Denken über die Psychiatrie und Psychopathologie auf seine eigenen psychologischen Schwierigkeiten zu beschränken. Foucault bleibt nicht nur wegen des Einflusses seines Denkens vollkommen zurecht einer der bekanntesten und prägendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Für Einreichungen aus dem Bereich medical humanities führen wir (bisher) alleinig intern das Review durch und begleiten die Autoren bei der Revision der Artikel bis zur Veröffentlichung. Für die vorliegende Buchrezension haben wir keine ausführliche, ausgeschriebene Review verfasst, sondern uns auf Textkommentare, sowie eine gemeinsame finale Korrektur im Rahmen einer Besprechung via MS Teams beschränkt. Gemeinsam mit dem Autor wurde ein Begriffsglossar angelegt und der Artikel bebildert. Der korrigierte Artikel wurde dann nochmal innherhalb der Sektion abschließend besprochen und von den Editor*innen-in-chief vor der Veröffentlichung gesichtet.
Edited and reviewed by Steffen Schwerdtfeger.