Description
Call for Commentaries
Eine kritische Analyse, u.a. anhand von Aussagen anthroposophischer und homöopathischer Ärzt*innen
Previewbild von Steffen Schwerdtfeger; Titelhintergrundbild von Giorgio Trovaso.
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Lesezeit: ca. 140-200 min. (bei ca. 100 Wörtern pro Minute; ca. 17.5k Wörter; enthält 35 Abbildungen).
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Interne Reviewprozesse und interne Kommentare: Ein internes Review des Target-Essay erfolgte durch Bastian Schulzke. Menschen aus unserem Team werden potentiell ebenfalls immer wieder Kommentare/Reviews zu externen aber auch internen Editorials bzw. Essays wie diesem verfassen — analog zu unserem bisherigen rein internem Reviewformat für Einreichungen in Sektion I, Medical Humanities (auch aus unserem eigenem Interesse heraus und für die bewusste ‘Selbsterfahrung’ als Editor*in bei NOS; interne Einreichungen für diesen Call werden formell als “Editorial-Kommentar” geführt).
Begriffsglossar (auch als Infoboxen im Text vorhanden):
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Strukturell wurde der Target-Essay bewusst so geschrieben, dass er inhaltlich sowohl von Menschen aus dem Bereich Medizin / Life-Science, als auch von Menschen aus der Philosophie und den Geisteswissenschaften im Allgemeinen relativ leicht lesbar sein sollte — damit er ebenso relativ leicht kommentierbar ist. Vom Anspruch her sollte der Essay nicht viel schwerer zu lesen sein, als ein Zeitungsartikel — ausgenommen das Abstract, das eher formell und fachlich-dicht gehalten wurde. An punktuell komplexeren Stellen sollen Glossarboxen das Lesen erleichtern. Der Essay ist tendenziell freier formuliert als bspw. ein wissenschaftliches Paper, dennoch wurde eine klare Argumentations- und Textstruktur im Stile einer klassischen Abhandlung verfolgt.
Inhaltlich sollte die erste Hälfte thematisch für bspw. Menschen aus dem Bereich Medizin, Pharmazie, Psychologie etc. leichter zu verstehen sein. Die zweite Hälfte (oder eher das letzte Drittel) hingegen sollte tendenziell eher zugänglicher sein für Menschen aus dem Bereich Philosophie, Literaturwissenschaft/Komparatistik/Sprachwissenschaften/Linguistik, Publizistik, Kommunikationswissenschaften...
Zur groben thematischen Orientierung findet sich weiter unten neben dem erwähnten Abstract auch ein thematisches Stichwortregister.
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Antiwissenschaftliche/-demokratische Ideologien haben in den letzten Jahren stark an Zustimmung gewonnen und werden immer offener ausgelebt. Dabei ist die ‘Poetik der Verklitterung’ und Demagogie immer die gleiche und an sich leicht zu durchschauen. Dennoch ist antiwissenschaftliches Denken, u.a. durch absurde Gesetze wie den “Binnenkonsen”, eine starke Lobby und bspw. dem obligatorischen Verkauf von Pseudomedizin in Apotheken, immer noch fester Bestandteil des deutschen Gesundheitswesen.
Dieser Essay soll, u.a. am Beispiel der anthroposophischen Medizin und der Homöopathie, zeigen, welche rhetorischen Tricks zur Verteidigung von Pseudowissenschaften häufig zur Anwendung kommen und warum es wichtig ist, sich ebenfalls immer offener kritisch gegenüber derartige verachtenswerte Ideologien zu positionieren.
Neben der Gegenüberstellung des Wirkungsbegriffs in wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Medizin, werden wir uns auch einer fast kartesischen Selbsterfahrung widmen und radikal an der Wirkung von Medikamenten zweifeln, um zu sehen, was an Wissen übrigbleibt. Im Fokus steht hierbei eine für jeden verständliche und selbst erfahrbare Auslotung eines intersubjektiven Wissens und Wissenschaftsbegriffes im Gegensatz zu jeglicher Art von Glaubenssystem.
In der zweiten Hälfte des Essays werde ich zeigen, dass sich viele meiner Kritikpunkte auch anhand eines immer noch sehr wirksamen substanzdualistischen Verständnisses von “Geist und Körper” in der Alltagspsychologie erklären lassen — auch geprägt durch formelle sprachliche Dispositionen, wie eine Subjekt-Objekt Syntaxstruktur.
Als Alternative eines Substanzdualismus und zur Verbesserung von Kommunikation und inferenzieller Transparenz in der Wissenschaft stelle ich abschließend ein pragmatizistisch-phänomenologisches Konzept vor, das mitunter die Unterscheidung Leib und Körper nutzt und als eine semiotisch-kategorielle Erweiterung/Auslegung eines doppelten Monismus gesehen werden kann.
Dabei werden wir uns auch einer poetischen Betrachtung von Sprache zuwenden und sehen, inwiefern rhetorische Effekte und Motive für den Ausdruck des eigenen Erlebens im Alltag, sowie bspw. in der Lyrik, genutzt werden (Poetik der Ästhetik, des Ausdrucks des Erlebens, der relationalen Manipulation…).
Die Kernthese dieses Essays ist es, dass man, sowohl anhand der ideologischen Rhetorik als auch anhand der Inhalte jeglicher Art von Pseudowissenschaft, zeigen kann, dass es vorrangig immer darum geht, transparente Wissenschaftsbegriffe, aber auch die eigene Intuition von Menschen, gezielt zu unterminieren, um einen segregistischen Erkenntnisbegriff, bspw. in Form von unnötigen Dichotomien wie Alternativ- und Schulmedizin, für ideologische Zwecke zu etablieren.
Ich argumentiere daher dafür, dass jegliche Art von Pseudomedizin aus dem Gesundheitswesen aus ethischen Gründen auszuschließen ist und die ewig potemkinsche “Erforschung” jener Ideologien eingestellt werden sollte.
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THEMATISCH-BEGRIFFLICHES STICHWORTREGISTER: Wissen, Epistemologie, Pseudomedizin, Pseudowissenschaft, Ideologie, Evidenz, Evidenzbasierte Medizin, Rhetorik, Redlichkeit, Demokratie, Leiblichkeit, Substanzdualismus/-monismus, Sprache, Pragmati(zi)smus, Abduktion, Inferenz, Hypothesentesten, Statistik, Aufklärung, Dichotomisierung, Wirkungsbegriffe, Medizin, Menschlichkeit, Psychologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Placeboeffekt, Leitlinien (Evidenzbericht), Beweislastverschiebung, Poetik, Ästhetik, Erleben, Segregismus/Segregation, Korrelation, Kausalität, Äquivalenz von Masse und Energie, Relativitätstheorie, Physik, Systemtheorie/Informationstheorie, Noiesis, Aesthesis, Poiesis, Metanoia, Experiment, Flatearther, Manipulation, Produktbindung, Prozederebindung, Konsumismus, Lifestyle, Populismus/Demagogie, epistemische Verklitterung, Tradition, anekdotische Beweisführung, Homöopathie, Heilpraktiker*innen, Binnenkonsens, Anthroposophie, Esoterik, TCM, Akupunktur, Glaubenssysteme, Kommunikation, Biopsychosoziales Modell, Holistik, Tropen/Tropus (Metapher, Metonymie, Synekdoche), Kippfiguren, Redundanz, methodischer Zweifel, Derealisations-/Depersonalisationserleben, Schizophrenie, hegemonialer Relativismus.
Kompetenzen im Bereich Wissenschaftskommunikation sind in den letzten Jahren wichtiger geworden denn je. Nicht mehr nur in Bezug auf die COVID-Pandemie, sondern auch zunehmend generalisierte antiwissenschaftliche und allgemein antidemokratische politische Kräfte aus dem konservativen und generell extremistischen politischen Spektrum versuchen mehr denn je, redliche Kommunikationskanäle in allen Bereichen der Gesellschaft zu ihren Gunsten aufzuweichen ─ schon seit Jahren in einer Weise, die wenig von humanen Werten und rhetorischem Anstand zeugt, sondern gezielt Segregation bzw. Polarisierung der Gesellschaft fördert. Dieser Trend ist auch 2024 nicht gebrochen, im Gegenteil: Zukünftig wird es weiterhin immer wichtiger werden, sich ebenso generell für eine redliche und transparente Wissenschaft einzusetzen ─ sowie ohnehin zuvorderst für eine diese stützende Politik.
Nun, woran erkennt man Redlichkeit in der Wissenschaft, in der Medizin und in der Politik, d.h. woran erkennt man eine Wissenschaft, eine Medizin und Politik, die auf Basis aufrichtiger (ehrlicher) und somit möglichst valide belegter und transparent dargelegter Urteile, ethisch vertretbare Entscheidungen fällt — anstatt auf Manipulation und Populismus/Demagogie zu setzten. Dieser Essay soll u.a. zeigen, dass Populismus/Demagogie und Pseudowissenschaften alle das gleiche rhetorische Instrumentarium aufrufen und dass man glücklicherweise eigentlich weder allgemein Akademiker*in noch Expert*in im Bereich Wissenschaftskommunikation und -theorie sein muss, um „Falschinformation“ oder generell rhetorische Manipulation und epistemische Verklitterung zu erkennen und sich darin strukturell und argumentativ zu orientieren. Menschen ohne Fachwissen jeglicher Art müssen nicht bereits im Vorhinein in eine passive, unmündige, konsumistische, inkompetente oder gar verantwortungslose Opferrolle gebracht werden — dieser Essay spricht sich für eine offene und mitunter konfrontative Vermittlung von Grundkonzepten der Wissenschaft aus. Die Grundidee von Wissenschaft kann von jedem verstanden werden — auch, da die Grundidee der Methodik der Wissenschaft sehr intuitiv und einfach ist: man stellt eine Hypothese auf und testet diese auf unterschiedliche Weise.
Trotz der Einfachheit wissenschaftlicher Grundkonzepte zeigt sich, dass Pseudowissenschaften, aber leider auch zu Teilen Felder wie die Philosophie, sich häufig rein dadurch zu definieren versuchen, indem sie einen vermeintlich versöhnlichen, aber meist nichts-erklärenden, und im Grunde immer hegemonial auftretenden Wissenschaftsrelativismus repetieren. Dieser Essay soll zeigen, dass es genau diese Formen von Relativismus sind, die Menschen nicht zusammenbringen, sondern Kommunikationskanäle letztlich segregieren, anstatt sich für eine offene Kommunikation von bspw. Wissenschaft in der Gesellschaft einzusetzen.
Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Medizin braucht es mehr aktive Aufklärung und weniger die Erwartung, dass die Leute schon selbst den Unterschied zwischen Wissenschaft und Manipulation erkennen könnten, oder dass Vertrauen und Empathie ausreichen würden, weil “die das eh nicht verstehen werden oder wollen” oder ähnliches. Vor allem die Vorstellung, dass der “Konsum von Wissen(-schaft)” etwas sei, dass ohne Verantwortung für alle Beteiligten einhergehen kann, ist problematisch und folgt der Ansicht, dass Medizin und Lifestyle ein und dasselbe seien: eine reine Sache des Habitus, der Attitüde, Meinung oder der “Weltanschauung” — ein Feeling, das im Zentrum stehen müsse… Nicht nur die Demokratie, sondern auch die Wissenschaft verlangt es, dass sich Menschen konstant aktiv für Redlichkeit einsetzen, anstatt sich in entscheidenden Momenten in vermeintlich neutrale Wohlfühlräume oder oberflächliche Heuristiken zu flüchten. Ein flascher Frieden, der am Ende niemandem etwas bringt, außer jenen, die sich für Spaltung jeglicher Art einsetzen. Welt und Wissenschaft lassen sich eben nicht rein attitüdisch oder rein als eine Art Lifestyle effektiv, redlich und demokratisch verhandeln.
Methodisch soll in diesem Essay vor allem eine rhetorische und eine epistemische Analyse pseudowissenschaftlicher Konzepte zum Tragen kommen. Wissenschaft wird viel zu oft rein als Pool von Ergebnissen/Fakten und nicht als möglichst transparenter Erkenntnis- und Analyseprozess verstanden. Bevor wir uns ansehen, was unter rhetorisch und epistemisch zu verstehen ist, sei angemerkt, dass es das Ziel dieses Essays ist, gerade solche Kernkompetenzen in der Erkennung von redlicher und unredlicher Argumentation im Gesundheitswesen und im Alltag zu vermitteln, für die man nur sehr wenig medizinisches und philosophisches Fachwissen und vor allem kein esoterisches „Wissen“ braucht (und sollte daher potentiell auch von Patient*innen oder generell Fachfremden leicht angewendet werden können und von nutzen sein). Eine rhetorische und eine epistemische Analyse eignen sich für solche Ansprüche im Besonderen.
Nebst einer solchen Analyse werden wir uns auch auf ein fast kartesisches Selbstexperiment einlassen und abschließend zeigen, wie sich viele der konzeptuellen Widersprüche und manipulativen Taktiken in Bezug setzen lassen mit der Funktionalisierung eines mehr oder minder indirekten substanzdualistischen Verständnisses von “Körper und Geist”. Ein solch substanzdualistisches Verständnis findet sich auch in unserem alltagspsychologischen Verständnis von Körper/Geist wieder, sowie in unserer Sprache (Subjekt-Objekt Verhältnisse), macht uns aber anfällig für menschenverachtende Ideologien, wie ich zeigen werde. Eine Kritik am Subtanzdualismus ist nicht neu und spätestens seit den massiven Fortschritten in der Physik hat sich fachlich ein doppelter Monismus etabliert (Geist ist auch Körper, aufgrund der Äquivalenz von Masse und Energie — etwas, dass sowohl die Anthroposophie, als auch die Homöopathie vollkommen ignoriert, um bestehen zu können). Als protektive Alternative und zur Verbesserung der Kommunikation stelle ich einen semiotisch-pragmatizistischen Leiblichkeitsbegriff vor, der zudem nochmals genau erklärt und begründet, inwiefern pseudomedizinischen/-wissenschaftlichen Ideologien primär ein ethisch nicht vertretbarer (epistemischer) Segregismus als Kernmotiv eingeschrieben ist und daher ein per se antisoziales und exkommunikatives Programm vertreten, das mit einem ethisch vertretbaren Medizinbegriff unvereinbar ist.
Unter rhetorischer Analyse ist eine Untersuchung jener manipulativen Sprache und Poetik gemeint, mit der pseudowissenschaftliche Verfahren, Menschen zu überzeugen versuchen. Sprache ist der primäre Weg, über den wir Informationen kommunizieren. Sprache geht Menschen zudem sehr schnell sehr nahe, wenn es um die eigene Existenz geht. Man könnte sagen, wenn es um uns geht, hören wir Gesprochenes ganz anders. Manche klammern sich regelrecht an Worte und Konzepte und verlieren die Aufmerksamkeit auf anderes gänzlich. Welche Sprache ist es nun, die Menschen dazu bewegt, z.B. Anhänger des obskuren anthroposophischen Personenkultes rund um Rudolf Steiner zu werden? Welche Argumente sind es, die Menschen dazu beweget, Homöopathie oder die “Traditionelle Chinesische Medizin” nicht zu hinterfragen, sondern einfach zu vertrauen? Konkreter werden wir uns zudem auch fragen, welche Sprache ist es, mit der Anthroposoph*innen und Homöopath*innen usw. versuchen, Medizinstudierende und Ärzt*innen von ihrer „menschlicheren Medizin“ zu überzeugen?
Direkt an die rhetorische Analyse schließt eine epistemische oder wissenschaftstheoretische Betrachtung an, hauptsächlich von Aussagen von Vertreter*innen der Anthroposophie und Homöopathie (aber auch zahlreiche andere Strömungen). Unter Epistemologie ist die Lehre bzw. die Analyse dessen, was man (aus sich selbst heraus und methodisch) wissen kann, gemeint (ähnlich hier definiert: SEP). In der Statistik treten solche Diskurse bspw. in Bezug auf Fragen der Validität einer Studie auf. Inwiefern konnte das Ereignis XY überhaupt gemessen werden, z.B. der Geist einer verstorbenen Person der mit Angehörigen kommuniziert (sogenanntes Ektoplasma, *hust-hust*)? Bestehen ggf. andere Variablen als Ursache für einen beobachteten Effekt bzw. ein Phänomen? Stehen die erhobenen Daten als Beleg für eine Hypothese ein, oder haben die Messungen mit einem Sachverhalt gar nichts zu tun? Geht es eventuell am Ende nur darum eine Situation zurechtzufabulieren, weil sie einem bestimmten Glauben dienlich ist?
Philosophischer gesprochen geht es um Fragen wie: „Kann ich als Mensch die Aussage oder Vorhersage X überhaupt treffen, oder behaupte ich damit eine Art Gott oder übermenschlich zu sein?“. Was vielleicht alles entweder sehr technisch oder „fundamental“ klingt, meint eigentlich auch etwas sehr Banales: die Betrachtung der Grenzen der eigenen und methodischen Urteilskraft ─ eine Form der Betrachtung und Erkenntnis, für die man wiederum glücklicherweise keine magischen Fähigkeiten besitzen muss.
Angemerkt sei, dass in diesem Essay der Begriff “Wissen” meist im eben genannten epistemologischen Kontext verwendet wird. Es gibt noch eine Verwendung des Begriffes Wissen im Sinne von “Überlieferung von Schriften/Information”, d.h. im Sinne eines wie auch immer geartem Gedächtnisses. Bibliotheken haben uns z.B. altertümliches “Wissen” überliefert, wobei damit nicht gekennzeichnet wird, ob diese Informationen valide oder evident sind (d.h. epistemologisch betrachtet), wie wir später wiederholt sehen werden.
Inhaltlich geht es in diesem Essay vor allem um pseudomedizinische Ideologien. Die dort angewendeten manipulativen Argumentationsstrukturen lassen sich jedoch auf jede Art von pseudowissenschaftlichen Konzepten und Glaubenssystemen im allgemeinen übertragen, da es in all solchen Kreisen meist zuvorderst ohnehin darum geht, Kommunikationswege zu anderen Positionen abzuschneiden und zu relativieren, bevor man das, wovon man überzeug ist, eigentlich vorstellt, begründet, belegt und etabliert (ähnliches Verhalten wie Sekten bspw.). Gleiches gilt für die Struktur populistischer / demagogischer Rhetorik in der Politik. Im Grunde geht es an vielen Stellen dieses Essays genau darum: klassische Textanalyse, sozusagen — weniger bis gar nicht darum, stur pseudowissenschaftliche Aussagen mit lexikal anmutenden wissenschaftlichen Aussagen bzw. “Fakten” zu vergleichen, oder im Detail zu erläutern, “wie die Wissenschaft das macht” oder “was die Wissenschaft dazu herausgefunden hat”.
Als konkretes Rhetorikbeispiel werden wir uns u.a. gleich die Bewerbung des Weiterbildungsangebotes der „Gesellschaft anthroposophischer Ärzte und Ärztinnen“ (GAÄD) mit dem Titel „Medizin menschlicher machen“ genauer ansehen. Allgemein werden wir uns jedoch in diesem Essay tatsächlich viel weniger mit Anthroposophie, Homöopathie oder sonstigen Ideologien im Detail beschäftigen, als mancher beim Lesen des Titels erwarten mag (kritisches Informationsmaterial dazu wird jedoch bereitgestellt). Das liegt nicht daran, dass dieser Essay unfair argumentieren möchte, d.h., ggf. selbst beabsichtigt unredlich zu sein. Das liegt auch nicht daran, dass dieser Essay vermeintlich intolerant und nicht pluralistisch genug sein will (das ist selbst eine segregistischer move, um sich vor jeglicher Infragestellung zu immunisieren und die ideologische Überzeugung/Meinung/Glauben aufrechtzuerhalten zu können). Nein, es liegt schlicht daran, dass sich z.B. das Weiterbildungsangebot der GAÄD auf regelrecht groteske Art und Weise vor allem darauf beschränkt, sich als Gegenmodell sowie als vermeintlich notwendige Ergänzung zur wissenschaftlichen Medizin zu präsentieren und zu definieren (bspw. via haldenartig kontextualisierter Begriffe wie „holistisch“).
Daher lautet die zentrale These dieses Essays, der wir nachgehen werden, dass es pseudomedizinischen Verfahren ─ wie die anthroposophische Medizin und der Homöopathie bspw. ─ weder darum geht, ein klares Gegenmodell zur wissenschaftlichen Medizin, noch eine Ergänzung zu dieser darzustellen und zu entwickeln, sondern vor allem darum, den epistemischen Unterschied zwischen intersubjektiv (=für jeden) zugänglichen wissenschaftlichen Aussagen und reinen Überzeugungen (=reine “Mein”-ung), sowie prinzipiell die Bedeutung von Begriffen wie ‚Wirkung‘ und ‚Medizin‘, rhetorisch und epistemisch gezielt aufzuweichen und zu verklittern. Auch all jene, die sich dazu vermeintlich “neutral positioniert” wähnen, müssen sich verantwortlich fühlen, sich von so einem Treiben, der eindeutigen Urteilskraft berauben zu lassen. Jede Form von Pseudowissenschaft verfolgt gezielte die Unterwanderung wissenschaftlicher Integrität. Das ist bekannt, wir werden jedoch sehen, wie erschreckend verbreitet pseudomedizinisches Gebaren im deutschen Gesundheitswesen ist — und wie man dagegen sehr einfach vorgehen könnte.
Eines der Hauptmotive pseudomedizinischer Manipulationen ist natürlich die dezidierte Entmenschlichung jeglicher Kritiker*innen: — Für eine argumentativ genehme Vorverzerrung wird Wissenschaft in pseudomedizinischen Diskursen meist auf wunderlich-selbstverständliche Art und Weise schon so dargestellt, als bestehe sie aus Menschen, die keine Ideen, keine Kreativität, keine Lebendigkeit hätten ─ aus Menschen die nur reagieren, nicht agieren können. Aus Menschen, die keine Menschen sind. Anders gesagt, Wissenschaft wird gerne nicht als fortwährendes Hypothesenbilden und -testen verstanden ─ ein sehr kreativer Prozess kann man sagen ─, sondern vielmehr als ein stagnierender Status quo, gegen den es vor allem mit wirren bis wahnhaften Überzeugungen zu rebellieren ginge. Nur die Homöopathie, Schüßlersalze, anthroposophische Medizin, Yoga, TCM etc. kann die Menschlichkeit und das “Wunder” in der Medizin noch retten ─ so zumindest die Kernmessage, mit der sich sehr viele Menschen auch in Bezug auf ihr eigenes vermeintlich kritisches Denken identifizieren: Menschlicher sein als die „anderen“ ─ ein leichtes, wenn man sich die „anderen“ entsprechend praktisch zurechtfiguriert und mitunter sofort in apologetische Rollen drängt.
Als Distinktionsgesten via narzisstischer Erhöhung der eigenen prinzipiellen Erkenntnisfähigkeit könnte man das auch beschreiben (alles powered by “Coaching für High-Performer” natürlich, und alles nicht anti- sondern interdisziplinär und mit reichlich ‘experience’— natürlich; gerade Menschen, die für so ein Verhalten ggf. sogar anfällig sind, sollten sich nicht davon einnehmen lassen und ggf. sogar davor durch gezielte Aufklärung besser geschützt werden (hierzu eine interessante psychologische Studie, die gezeigt hat, dass eine derartige Persönlichkeitsstruktur der stärkste Vorhersagefaktor für den Glauben an Astrologie ist: “Even the stars think I am superior: personality, intelligence and belief in astrology.”)). Dass sich ein vermeintlich bunter und kreativer Lifestyle als eine spalterische Okkupation gerade der Kreativität von Menschen selbst entpuppt und andere Menschen vor allem in Missionäre verwandelt, wollen viele im “Flow” nicht mehr wahrhaben. De facto gibt es nichts unkreativeres, als potentiellen Fragen an die Welt und an einen Selbst mit starren Glaubenssystemen zu begegnen, wie wir sehen werden.
Angemerkt sei, dass zuweilen auch Wissenschaftler*innen gerne eine Haltung nach dem Motto “Die Ergebnisse sprechen immer für sich selbst!” einnehmen. Es stimmt, dass Daten per Definition eine Evidenz für sich besitzen, sonst wären sie keine Daten, d.h. aber nicht, dass sich automatisch jede richtige Konsequenz daraus ableiten ließe, oder keiner weiteren Erklärung, oder reflektierte Funktionalisierung bedürfe und dergleichen (auch wenn das nicht bedeutete, dass jeder nach Gusto sich alles so zurechtrelativieren kann, dass es dem eigenen Selbstbild oder denVorurteilen gegenüber anderen dient). Das ist fast so, als hätte man Antworten vor sich liegen, ohne die dazugehörige Frage zu kennen und spiegelt den Prozess der Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft nur verkürzt wieder, wie wir sehen werden (im Vergleich zur Rhetorik der Pseudowissenschaften jedoch eher cherry-picking).
Nichtsdestotrotz, für Menschen mit der oben beschriebenen zweifelhaften Haltung und Persönlichkeitsstruktur ist es nicht selten automatisch wahr, dass jene, die Wissenschaftler*innen geworden sind oder für solch eine Tätigkeit studieren, dies nicht aus Erkenntnissen, Kreativität, Beobachtungen etc. heraus, sondern aus “Gewöhnung” täten — aufgrund des “schulmedizinischen Mainstreams” usw. Selbst in der Philosophie ist es bedauernswerterweise gar nicht unüblich, sich Relevanz alleinig durch einen hegemonialen, bezugslosen, nichts erklärenden und verzerrenden Relativismus des “anderen” verleihen zu wollen — und zugleich zu glauben, man könne alles alleinig mit Sprache oder qua Meinung abhandeln (oder noch meinen, die Medizin könne nicht logisch denken oder dergleichen ad hominem).
Im Originalton der GAÄD bspw. klingt derartig selbstgerechte Rhetorik mitunter so:
Auszug aus einer Email zur Bewerbung des Weiterbildungsangebotes der GAÄD an Studierende der Charité (via dem FSI-Verteiler erhalten am 09.01.24)
Liebe Studierende der Charité,
vom 28.2. bis zum 2.3.2024 findet das GAÄD-Einführungsseminar zur Anthroposophischen Medizin „Medizin menschlicher machen“ in der Filderklinik bei Stuttgart statt.
Durch das Studium und die anschließende ärztliche Weiterbildung wird man an eine naturwissenschaftlich orientierte, kausal-analytische Betrachtung des menschlichen Organismus und seiner Erkrankungen gewöhnt.
In der unmittelbaren Begegnung mit dem erkrankten Menschen wird demgegenüber deutlich, dass das Wesen des Menschen bei weitem mehr umfasst.
Was machen Anthroposophische Ärzt:innen anders und wie unterstützen sie die Selbstheilungskräfte der Patient:innen? Die Teilnehmer:innen erwartet eine kleine Reise durch die Anthroposophische Medizin: Grundlagenvermittlung, Patientenvorstellung, Praktika, Therapieerleben, Klinikführung, Expertenrunde zum Austausch und vieles mehr. […]
Auch der restliche Teil der Einladung vermittelt nichts über die — allein oberflächlich betrachtet — schnell bizarre Anthroposophie als solche (nur ein paar Eckdaten) und wartet immer wieder mit dem gleichen Gestus auf, um sich a priori einen Mehrwert andichten zu können. Selbiges gilt für das Infovideo des Youtube Kanals der GAÄD — wobei dort vor allem versucht wird, jeden Zweifel daran zu zerstreuen, dass anthroposophische Ideologien konfliktfrei kompatibel seien mit Wissenschaft und Menschlichkeit. Auch wird immer wieder versucht, Formate wie Kunsttherapie mit dem Siegel “Anthroposophie” unzertrennlich in Verbindung zu bringen, um den Eindruck zu erwecken, als wäre (wahre) Kreativität regelrecht eine Erfindung Steiners — bekanntlich werden solche Überzeugungen auch schon früh via Privatschulen geprägt (Waldorfschulen). Informationen über die konkreten Überzeugungen der Anthroposophie erhält man aber auch hier nicht (Astralleib, Ätherleib, Mondmisteltherapie, Reinkarnationstherapie etc.). Wer noch mehr über das Auftreten der GAÄD lesen möchte, der kann sich bei Bedarf bspw. den Flyer zur Weiterbildung hier herunterladen und beim Lesen dieses Essays immer wieder mal hineinsehen (fast identischer Text, wie die obige Email; zur Website der GAÄD direkt verlinken werde ich hier nicht):
In jedem Falle, gegen derart perfide zurechtgelegte Vorurteile, unnötige Dichotomisierungen, gegen rhetorische Segregation von Kommunikationsräumen in Bezug auf Diskurse der Medizin und Wissenschaft ─ gegen einen solch betont spalterischen Ansatz der GAÄD und anderen Organisationen aufzuklären, darin besteht die Kernmotivation hinter diesem Essay.
In den letzten Jahren ist vor allem die Homöopathie ein häufig diskutiertes Beispiel für die mannigfaltige Gefahr pseudomedizinischer Verfahren gewesen. Es liegen im Internet auch zahllose Interviews mit Vertreterinnen der Homöopathie vor, die wir uns zum Teil in diesem Essay auch ansehen werden.
Anthroposophie und Homöopathie sind in vielen Punkten eng verbunden und vernetzt, wir werden jedoch sehen, dass Homöopath*innen im Grunde rhetorisch identisch zur GAÄD und jeder Art pseudowissenschaftlicher Ideologie (Energiearbeit, TCM etc.) taktieren und daher das jeweils spezifische ideologische Wirkungsnarrativ im Grunde ─ auch eigentlich auf bedauernswert offensichtliche Weise ─ komplett austauschbar ist.
In jedem Falle, um ein solches ubiquitär zu findendes, vom Widerstand abhängiges Selbstverständnis der „Alternativmedizin“ nachvollziehen zu können, werden wir uns am Anfang vor allem mit Grundkonzepten wie dem Begriff der „Wirkung“ in der Medizin, sowie dem Unterschied zwischen reinen Überzeugungen jeglicher Art und dessen, was als Wissen bezeichnet werden kann, beschäftigen. Wir sollten dadurch das richtige Werkzeug haben, um genau zu verstehen, wovon sich z.B. die anthroposophische „Medizin“ und die Homöopathie von wissenschaftlicher Medizin abgrenzen möchte ─ anders gesagt: Wenn vor allem im reinen Akt der Abgrenzung das Selbstverständnis bspw. der anthroposophischen Medizin verankert ist, sollten wir mit dem oben beschriebenen Vorgehen tatsächlich am meisten über sie erfahren können, indem wir sie vorerst ignorieren (wir werden uns jedoch peu-a-peu daran abarbeiten).
Prinzipiell kann man jedoch vorweg natürlich schon sagen, dass, wenn man das Konzept „(wissenschaftliche) Medizin“ ebenso ex negativo, d.h. als das definieren möchte, was sie nicht ist oder sein soll bzw. per Definition nicht sein kann, dass man dann von einem Verfahren der Erkenntnisgewinnung spricht, dass sich nicht alleinig auf Begriffs- und Glaubenssysteme, Tradition, Meinung bzw. reiner Überzeugung beruft und berufen kann, um eine Wirkung zu beschreiben, festzustellen bzw. vorherzusagen ─ sondern grundsätzlich gesetzte Annahmen (Hypo-thesen) auf redundante Art und Weise prüft und evaluiert (Evaluation physiologisch-physikalischer Wirkmechanismus, statistische Auswertung, qualitative Verfahren, allgemeine Plausibilität, Nebenwirkungen usw. usf.).
Was wie ein generell positivistisches Wissenschaftsverständnis klingen mag, gilt im Grunde für den Fall der Medizin im Vergleich zur Pseudomedizin oder der Medizin in Bezug auf fundamentale ontologische Fragen (Fragen des Seins an sich bspw.) eigentlich gar nicht so sehr, wie viele vielleicht meinen mögen. So oder so folgen wir alle zuvorderst automatisch dem positivistischen Anspruch, dass die Wirkung eines Präparates/Prozederes doch wohl mindestens von einem selber zu messen bzw. zu erleben sei. Wir werden sehen, dass auch das gar nicht so leicht ist, wie man meinen mag, und darin genau das Problem besteht, das wissenschaftliche Methoden als solche überhaupt hat entstehen lassen. Wir werden jedoch auch sehen, dass genau diese Unsicherheit, eine Wirkung nicht immer selber durch z.B. den eigenen Konsum eines Präparates automatisch belegen zu können, gar nicht das ist, was einen beunruhigen sollte bei Fragen des Vertrauens in eine als wirksam angepriesene Methode. Im Gegenteil, Unsicherheit ist auch und gerade das, was einen ermächtigen kann, nach der Wirkung und der Evaluation dieser zu fragen ─ letztlich, um der eigenen Unsicherheit die entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen und nicht nur abzulenken (wobei letzteres Verhalten bei Konsumenten von Esoterik in der Art und Weise der Abwehr gegenüber Kritik fast Suchteigenschaften erreicht, d.h. etwas, dem argumentativ nichts im Wege stehen darf).
Ohnehin neigen Diskurse in Bezug auf Fragen über das, was man wissenschaftlich belegen kann, viel zu oft (taktisch) sofort in Grundsatzfragen abzudriften, die initial gar nicht gestellt oder angenommen werden ─ Fragen, die in Bezug auf tendenziell eher einfache Behauptungen der Wirkung einer Medizin bspw. ─ und somit einer an sich messbaren Wirkung in der Welt ─ nur eine geringe Rolle spielen. Vor allem reflexartige Aussagen wie, “die Wissenschaft weiß auch nicht alles!” erklären im Grund eigentlich gar nichts, bzw. es bleibt unklar für was und wen man mit solchen Aussagen eigentlich argumentiert (man gibt ja damit indirekt zu, dass man etwas, das man verteidigt, anscheinend nicht weiß).
Klassischerweise unterscheidet man Überzeugung/Meinung/Glauben bzw. reine Hypothesen von geprüftem Glauben / geprüften Hypothesen — wobei letzteres per Definition als Wissen bezeichnet wird.
Es sei nochmals hervorgehoben, dass ein indirekt positivistischer Anspruch im Diskurs vor allem von Konzepten wie der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin selbst ausgeht mit ihren universalistischen und vermeintlich zweifellos erkennbaren Effekten, nutzbar in der Medizin für ein jedes Symptom, ganz selbst-evident und ohne Nebenwirkungen (“Mir hilft es halt!”). Als Verteidigung für ausbleibende wissenschaftliche Evidenz wird auch gerne angeführt, dass man “das ja so einfach nicht” sagen / messen oder überhaupt infrage stellen könne. Es handele sich dabei “um was ganz anderes”, etwas das “außerhalb des wissenschaftlichen Blickes liegt”, etwas, für dass man halt “tolerant” sein muss etc. Auch mit solchen Aussagen, wird nicht mehr als die eigene Überzeugung darin begründet, dass “den anderen” etwas fehle, diese ein Defizit hätten, wenn entsprechende Überzeugungen infrage gestellt werden — ein fundamental menschenverachtendes Paragdigma, dass so gar nicht in die heile holistische Welt passt, mit der gerne geworben wird. Das Verdrehen der Beweislast ist ein häufiger Move, um redliche Argumentationsstrukturen zu unterwandern — “die Patent*innen wünschen danach” heißt es dann auch mitunter (die Überzeugung der Patient*innen soll dann perfider Weise die Beweislast tragen).
Auch einen fehlenden Beweis damit zu begründen, dass etwas “verschleiert” wird, “unterschlagen” oder dass andere einfach “blockieren”/”intolerant seien”, folgt dem immer gleichen spalterischen Prinzip. Bigpharma und deren roboterhaften Advokaten hält die positiven Studien zur Homöopathie unter Verschluss! Ziel ist es in jedem Falle, kritisches, d.h. wissenschaftliches Denken aus epistemischen Kommunikationsräumen, wie z.B. Universitäten und vor allem Kliniken und Praxen, als bspw. unmenschlich auszuschließen oder zu unterdrücken.
Im nächsten Kapitel werden wir uns den wissenschaftlich korrekten Medizinbegriff genauer ansehen und untersuchen, inwiefern ein Wirkungsbegriff in der (überheblichen) “Alternativmedizin” sich dem Anspruch nach überhaupt von den Ansprüchen der (vermeintlich dichotomisierten) “Schulmedizin” unterscheidet. Im Kapitel darauf wiederum werden wir dann unseren Selbstversuch in Unsicherheit starten und uns in fast kartesischer Weise radikal fragen, wie und ob — und wenn, dann wann — wir selbst einschätzen können, ob etwas, das wir eingenommen oder durchlebt haben, gewirkt hat oder nicht (inwiefern ein Kausalverhältnis besteht, oder dieses zweier Ereignisse schlicht angedichtet wird, um der eignen Überzeugung/Meinung zu dienen). Allgemeiner und philosophischer ausgedrückt: wir werden uns ansehen, in welchen epistemischen Verhältnissen wir uns selbst ständig befinden und welche Schwierigkeiten und Herausforderungen damit einhergehen.
Was ist mit Wirkung gemeint und was ist Medizin und was nicht?
Ganz allgemein betrachtet ist es in der Medizin eigentlich meist überraschend einfach, Verfahren jeglicher Art auf methodische Redlichkeit zu prüfen, da medizinische Verfahren alle einer sehr einfachen Annahme auf Basis der mannigfaltigen Prüfung einer solchen einfachen Annahme folgen: Ein Medikament oder Prozedere muss eine Wirkung haben, um als Medizin gelten zu können ─ sonst hätte der Begriff Medizin keine Funktion mehr, könnte man sagen. Ex negativo ist daher all jenes nicht bzw. keine Medizin, wenn es keine Wirkung hat. Anders als vielleicht bei schwarzen Löchern oder gar religiösen Überzeugungen handelt es sich bei der Behauptung der Wirkung eines medizinischen Präparates/Prozederes in den allermeisten Fällen um eine sehr zugängliche und leicht prüfbare Behauptung. Es ist deshalb m.E. auch oft verschenkte Zeit, mitunter komplexe wissenschaftliche Verfahren zu erklären, um den Grund zu erläutern, warum die anthroposophische Medizin, die Homöopathie, die TCM etc. eine gefährliche Pseudowissenschaft ist und natürlich einfach falsch liegt (im Gegenteil, man fördert damit nur Science-Washing). Abgesehen davon ist Wissenschaft auch umfassend und für sich kohärent genug, um sie für sich selbst und nicht im reinen Widerstand zu erkunden.
Unabhängig davon, wie man eine Wirkung in der Wissenschaft im Detail prüft, denke ich, dass unter Wirkung so gut wie jeder zumindest sofort zu verstehen meint, was darunter auch zu verstehen wäre. Dennoch wird das Konzept Wirkung im alltäglichen Umgang häufig reflexartig mystifiziert und voreilig bescheinigt. Um nochmals das nur scheinbar große Geheimnis über die Bedeutung des Begriffes Wirkung in der Medizin zu lüften: Die geprüfte Annahme, der man in der Medizin folgt, ist jene, dass ein Medikament oder medizinisches Prozedere (bspw. OP, Psychotherapie etc.) eine tatsächliche Veränderung in der Welt zur Folge hat. Eine Folge, die in der Medizin entweder ein Leiden mindert, ein Leiden gänzlich heilt, einen Status von Gesundheit erhält, oder eine weitere Krankheitsprogression verhindert (wobei man in solchen Fällen nicht zwingend Leiden mindern kann; zudem bedarf dem Erhalt von Gesundheit weniger als zahlreiche Lifestyles und Pseudotherapien einfordern).
In jedem Falle ist mit Wirkung etwas bezeichnet, dass per Definition nicht alleinig auf einer Überzeugung fußen kann, auf einem reinen Begriffssystem, oder gar einer Tradition, sondern auf etwas, das nachweislich eine entsprechend behauptete Konsequenz in der Welt zur Folge hat ─ wieder, eine Folge, die man nicht nur annimmt, sondern potentiell auch unabhängig von einer Überzeugung erleben und entsprechend evaluieren kann (zur Sicherung der Unabhängigkeit von Überzeugungen und Daten gehört bspw. bekanntlich die Verblindung von Versuchsreihen). Anders gesagt, es geht um eine Tatsache, die nicht nur Einzelne erleben können, bspw. nur jene, die glauben/meinen, sondern potenziell jede Person, unabhängig davon, wovon sie überzeugt ist.
Das gilt auch im Falle von qualitativen Verfahren: eine suggestive Befragung ist nicht das, was man wissenschaftlich anstrebt, um z.B. unspezifische Effekte der Wirkung oder des Erlebens eines Prozederes zu evaluieren. Man kann auch Transkripte und Aufnahmen fälschen, Aussagen falsch interpretieren, aber es ist auch nicht so, als sei dieser Prozess potentiell intransparent und würde nicht wechselseitig mit anderen empirischen Verfahren arbeiten. Angemerkt sei auch, dass eine Evaluation der Wirkung möglich ist und sein muss, hat wiederrum der Sache nach nichts mit Überzeugungen zu tun, da die Evaluation ja die Prüfung von Überzeugungen betrifft (ein physikalische, statistische, qualitative, pragmatische Evaluation usw.; anderes zu behaupten stellt einfach nur eine unnötige Redundanz dar).
Trotz der Einfachheit des Begriffes und allgemein des Konzeptes „medizinische Wirkung“, ist es schon erschreckend, wie schnell Menschen bereit sind bei der Erläuterung dessen relativierende Reflexe auszufahren, obwohl die Sachlage gerade in Bezug auf die universalistischen Versprechen von pseudomedizinischen Verfahren wirklich seeeeehr klar und ernüchternd ist: Wenn bspw. ein homöopathisches Mittel verspricht, Fieber zu senken, dann muss in der Gruppe der Konsumenten dieses Präparates (Verumgruppe) auch ein entsprechender Effekt zu erkennen sein — im Vergleich zu einer Gruppe, die das Präparat nicht eingenommen hat, oder ein anderes (Vergleichs- oder Placebogruppe). Wenn es Fieber nicht senkt, dann wirkt es nicht. Tatsächliche Versuchsdesigns sind in der Regel noch etwas mehr durchdacht, aber mehr als eine beiläufige Naivität rechtfertigt ein Missverständnis in der Bedeutung des Konzeptes Wirkung eigentlich nicht. Wirk-ung enthält selber schon das Weltliche als Annahme in sich, sozusagen. Noch absurder wird es, wenn man ganz nüchtern bedenkt, dass der Begriff “Fieber”, definiert als Erhöhung der regulären Körpertemperatur, nun begrifflich schon literally auf einer Messung, einer Messung der Temperatur basiert... Solche Momente sind es, die einen spätestens an der Menschlichkeit der Alternativmedizin jeglicher Art zweifeln lassen sollten, wenn solche Ideologien es schaffen, dass Menschen so sehr das Offensichtliche ablehnen und damit völlig den Blick für einfache Begriffe/Konzepte wie Wirkung und Medizin verlieren, nur um die narzisstische Aufwertung, die man durch den Konsum von Pseudomedizin zu erleben meint, gegen andere zu verteidigen. Gerade daran zeigt sich, wie schnell und wirksam Ideologien ganz alltägliche Kommunikation regelrecht unmöglich machen können — und wie sich auch noch Pseudowissenschaftler*innen gerade durch das Erzielen solcher Effekte auf gruselig ignorante und opportunistische Art und Weise bestätigt fühlen...
In Bezug auf die häufig rabulistisch eingeforderte “epistemische scope” von Urteilen kann noch spezifischer von mereologischer Verklitterung gesprochen werden, d.h. der Verzerrung der Teil-/Ganzes-Verhältnisse eines Urteils bzw. dessen Gewichtung: Es wird dann bspw. gefordert, dass man quasi Fragen über alles, das Universum, die Welt usw. beantworten können müsse, um sagen zu können, dass bspw. homöopathische Mittel gegen Fieber nicht wirken und daher keine Medizin sind. Es verläuft sich doch auch deshalb niemand in einer Stadt, nur weil er keine Karte besitzt, die Informationen zu jedem kleinsten Punkt zu jeder Zeit usw. beinhaltet, sondern nur Informationen über das, was der Frage nach auch nun mal in Frage steht: der aktuelle Weg, in klein (skaliert), übersichtlich, ideal auf dem Smartphone — ohne Werbung am besten usw. Abgesehen davon sind solche rhetorischen Wendungen übliche Versuche, die Verantwortung der Erbringung der Evidenz auf das “andere” zu verwedeln. Auch hier findet sich wieder eine Flucht in eine vermeintliche Kontingenz (Möglichkeit) und auch in die Absurdität, weil man die Nicht-Existenz von etwas, dass nicht existiert, letztlich nur schlecht verifizieren kann (positiv gedacht, sozusagen), wenn eben keine positiven Daten (führsprechende Daten sozusagen) vorliegen. Man kann nur das iterative Ausbleiben einer Annahme/Vorhersage als Daten erheben in solchen Fällen. Das ist jedoch ohnehin nicht die Aufgabe derjenigen, die nach Evidenz und der Struktur eines Urteils, das schon gefallen ist, fragen…
Mancher wird nun sagen, Wissenschaft ist schwer und Ergebnisse je nach Kontext und Datenlage nicht immer eindeutig zu interpretieren und zu prüfen. Wie häufig ist das jedoch der Fall? Und warum sollten eventuelle Ambivalenzen, falls vorhanden, nicht ebenso in Form von Daten verfügbar, einsehbar und prüfbar sein? Und was hat das jetzt gerade mit Fieber zu tun? Kurz gesagt, um einen relevanten fiebersenkenden Effekt zu erkennen, braucht ein Mensch kein absolutes oder magisches Wissen, dass nur wenige hätten (außerhalb des „marionettenhaften Mainstreams“ usw.). Auch ein einzigartig ausgeklügeltes Studiendesign ist für die Beantwortung solcher Fragen in keiner Weise notwendig. Menschen müssen für solche Situationen wie der Frage einer dezidierten Wirkung, wie schon gesagt, nicht alle Fragen über „Gott und die Welt“ klären. Auch um eine Pseudowissenschaft als solche zu erkennen, braucht man so tief ins Dunkle nicht zu blicken, da eine Pseudowissenschaft selber angibt, den Ansprüchen einer Wissenschaft würdig zu sein, angibt, dass Effekte vorliegen, diese zu erkennen seien, wirk-lich sind ─ und daher natürlich zu messen wären.
Auch Fälle von Therapien, bei denen eine Unsicherheit in der Interpretation der Evidenz vorliegt, wie bspw. Cortison bei Hörsturz trotz fehlender statistischer Evidenz, bedeuten nicht, dass gar keine Evidenz oder gemessene Wirkung vorliegt, wenn eine entzündungshemmende Wirkung gegen den Hörsturz biologisch für vermutete Ursachen plausibel erscheint ─ eine entsprechende Wirkung, die bei Cortison wissenschaftlich als allgemeine / systemische Wirkung evident ist (d.h. man weiß, es wirkt überall im Körper, wo es hingelangen kann, auf diese Weise (nicht nur statistisch, sondern auch physiologisch evident)). Der Umstand ist hier auch schlichtweg insofern speziell, da Hörorgane derart klein sind, dass lokale Messungen und somit eine in vivo (“im lebenden”) Erforschung / Diagnostik der Ursachen eines Hörsturzes, bspw. von Erkrankungen der Chochlea (Hörschnecke), derzeit noch nicht in lebenden Menschen möglich sind, ohne irreversible Schäden zu verursachen (aber nicht zwingend unmöglich, und überhaupt bleibt eine Evaluation weiterhin möglich). Dadurch können unterschiedliche Ursachen mit unterschiedlicher Outcomeprognose, die auch unterschiedlich auf Behandlungen reagieren können, u. U. nicht ausreichend unterschieden werden (was sich stark auf die Aussagekraft statistscher Auswertungen auswirken kann)... Es bleibt in solchen Fällen dennoch auch noch die post mortem Erforschung der Ursachen (= bei Verstorbenen), z.B. Entzündungen/Gefäßschäden etc., die wenigstens für andere Menschen in Zukunft erkenntnisbringend sein kann — und natürlich schon in der Vergangenheit wissenschaftliche Erkenntnisse erbracht hat (ohne jetzt hier weiter auf das Thema Hörsturz einzugehen). Verglichen mit den universalistischen Wirkungsansprüchen von pseudomedizinischen Konzepten wie bspw. der Fußreflexzonenmassage oder der Akupunktur, handelt es sich hier auch um ein eher spezielles und spezifisches Problem.
Die Sachlage ist also auch in solchen Fällen nicht so, dass der Einsatz von Präparaten rein der Produkt- oder Prozederebindung dienen würde, weil sie ohnehin wirkungslos seien. Auch eine vermeintliche psychologische Wirkung homöopathischer Produkte würde bedeuten, dass ein Präparat nicht gegen Fieber hilft oder sonst wie spezifisch wirkt, sondern höchstens ein wenig die Angst nimmt, weil man das Gefühl hat, durch den vermeintlichen „Akt des Konsums von (vermeintlicher) Gesundheit“, Kontrolle über das eigene Leiden und Leben zu erlangen (was natürlich ein gefährlicher Trugschluß ist). Ein solches Verständnis von unspezifischer Wirkung als medizinisch lässt sich jedoch ebenfalls nicht anders als eine gezielte psychologische Manipulation auf Kosten der Orientierungsmöglichkeiten von Patient*innen beschreiben, da eine solche vermeintlich relevante Wirkung suggeriert, dass man das entsprechende unnötige ideologische Modell dafür mitkaufen müsste ─ und nicht einfach offen über Probleme und Unsicherheiten reden kann, ohne erst mal irgendwelche Karten zu legen, sozusagen. Kommunikation wird durch Ideologie nicht “unmittelbarer” oder “menschlicher”, im Gegenteil, sie wird ideologisch umgeleitet und Menschen, die kritisch denken, wird mitunter regelrecht Krankhaftigkeit angedichtet. Dass selbst Menschen mit akademischen Titeln darin eine menschlichere Medizin sehen können, ist nicht nur bedauernswert, sondern schlicht Zeugnis segregistischen und generell antiwissenschaftlichen Denkens.
Die mangelnde Transparenz und fehlende Offenheit für redliche Kommunikation, die mit pseudomedizinischen Verfahren einhergeht, zeigt auch, warum solche Ideologien nicht nur keine Wissenschaft sind, sondern auch unabhängig davon den Status “open” (bzgl. open science) verlieren (von Siegeln wie “integrativ” und “interdisziplinär” ganz zu schweigen). Intransparenz über “Forschungsmethoden”, über Wirkmechanismen, die allgemein mangelnde Evidenz, die mangelnde ethische Vertretbarkeit von unnötigen Produkt- und Prozederebindungen und ganz generell ein Mangel an redlicher Urteilsbildung machen es eigentlich — ‘beim Lichte und unbefangen’ — unmöglich überhaupt sinnvoll über pseudomedizinische Ideologien wissenschaftlich zu sprechen…
Zum gerne mystifizierten Placeboeffekt kann auch gesagt werden, dass ein solcher Effekt für sich immer bedeutet, dass ein Medikament / Prozedere nicht wirkt (Relation zwischen Medikament und Wirkung nicht vorhanden, sozusagen; aufgrund dieser Eigenschaft werden Placebos ja auch schließlich gezielt in klinischen Studien zur Verblindung eingesetzt). Anders gesagt, es ist egal, ob die Menschen dieses oder ein anderes Bonbon bekommen, selbst wenn der Placeboeffekt relevant und sogar signifikant wäre. Der entscheidende Punkt sollte dabei für Patient*innen und sowieso Ärzt*innen sein, dass man, um die positiven Eigenschaften eines Placeboeffekts (letztlich Stressreduktion) zu erzielen, Menschen in keiner Weise übervorteilen werden muss. Es bedarf keiner Märchen, keiner Ideologie, kein unnötiges Spiel mit der Hoffnung, kein Produkt und aufwändiges Scheinprozedere und auch keine Toleranz ─ im Gegenteil, mit Zuwendung und kompetenter Aufklärung, d.h. mit der Vermittlung von Bildung ließe sich der gleiche positive Effekt und noch viel mehr bei Patient*innen erreichen: nachhaltige Sicherheit, verbesserte Kommunikation, ein verbessertes Selbstverständnis der Patient*innen durch fördern kritischen Denkens, mehr Kontrolle durch Verständnis der Welt, sowie generell erweiterte Kommunikations- und Handlungshorizonte.
Eine konsumistisch-vermeidende Tendenz im Umgang mit, sagen wir ‘Leid und Erkrankungen’ und sogar Wissenschaft, sollte viel mehr problematisiert werden, anstatt zuzusehen, wie derartige Kommunikationsdefizite innerhalb der Gesellschaft monetär ausgeschlachtet werden auf dem “freien Gesundheitsmarkt” (bei dem möglichst die Nachfrage den Bedarf und den Sinn eines Bedarfs bestimmen solle).
Um mehr Zeit für gewisse “Placeboeffekte” in Behandlungen zu ermöglichen (und im besten Falle Effekte mit einer Effektstärke weit über ein “Placebo” hinaus), fehlt es, dass muss man leider sagen, jedoch meist sowohl an Finanzierungen und passenden Infrastrukturen, als auch vor allem an einen besseren gesamtgesellschaftlichen Anschluss an Bildungsinhalte, die für ein besseres Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen als auch im Speziellen sorgen könnten, damit längere Gespräche auch sinnvoll geführt werden können (wir fokussieren uns in diesem Essay vor allem auf das allgemeine Verständnis von Wissenschaft). Für Wissenschaft im Speziellen kann es meist weniger darum gehen, Patient*innen zu medizinisch vollwertigen Spezialisten auszubilden. Dennoch wäre es weit einfacher, wenn akademische Bildung allgemein breiter und in hochwertiger Form zugänglich wäre, da Menschen dadurch zumindest die Möglichkeit hätten, ihr eigenes Wissen zu erweitern, auszuloten und sich mitunter wenigstens häufiger grob orientieren könnten in der Welt des Wissens. Informationen rein auf das vermeintlich wesentliche zu vereinfachen / reduzieren reicht dafür nicht aus und Wikipediaartikel zu Themen wie bspw. Statistik sind nicht für Anfänger ausgerichtet (und of genug auch einfach falsch oder mindestens irreführend). Auch Infotainment hilft dabei nur bedingt und ersetzt ohnehin nicht die “first hand experience” des Lernens sozusagen.
Maßnahmen in solche Richtungen würden auf jeden Fall dafür sorgen, dass Wissenschaft von Teilen der Gesellschaft weniger apodiktisch wie eine Art ‘Alientechnologie’ behandelt wird, takisch direkt oder indirekt auch nur als reine Meinung stilisiert wird, oder Wissenschaftler*innen wie Automaten aus Zahnrädern betrachtet werden. Jeder, der erfolgreich selber etwas entdecken kann, fühlt sich auch weniger von „Fremden“ beeinflusst oder gar kontrolliert. Das gleiche gilt sogar für all jene, die nicht so erfolgreich sind, aber dennoch von mehr Menschen in ihrem Umfeld profitieren, denen die Erlangung von Bildung gelingen konnte ─ ohne sich existentiell und psychisch vollkommen zu ruinieren.
In jedem Fall, wo soll etwas wirken, wenn nicht in der Welt, könnte man auch fragen. Und dennoch ─ dennoch treibt viele reflexartig und scheinbar unermüdlich ein hegemonialer Relativismus an, solche einfachen Verhältnisse gezielt zu verklittern. Was treibt Menschen an, so vehement Ideologien zu verteidigen? Und warum ist das immer gefährlich?
Dass sich Menschen nur schwer von widerlegten Überzeugungen befreien können und dafür sogar Menschen aufgeben, ist bekannt. Die Netflix Doku „Behind the curve“ (Ausschnitt aus einem Erklärvideo, ab Minute 3:00) zeigt an einer Stelle auf sehr eindrückliche Weise, wie sich Flatearther mithilfe ihrer eigenen und sogar wissenschaftlich weitestgehend validen Experimente selber widerlegen ─ und aber trotzdem weiter versuchen „es irgendwie zu schaffen“ ihre Überzeugung, dass die Erde eine Scheibe sei, zu beweisen. Das Eindrückliche daran ist nicht ein vermeintlich offensichtlicher Realitätsverlust in der Urteilsbildung solcher Menschen, sondern dass es ganz unverschleiert nicht um Wahrheit oder Wissen, sondern um gezielte Segregation von Wissenschaft aus dem öffentlichen Diskurs geht. In dem obigen Falle ist das in mehrerlei Hinsicht vollkommen schief gegangen, da die Flatearther ganz klar demonstriert haben, dass im Grunde jeder solche und eine Vielzahl von anderen Experimenten ohne große Investitionen durchführen kann — das Narrativ von einer “Elite” die Ergebnisse zurückhalte /”faken” würde, oder dass es sich um reine Intoleranz oder Wissenscahft gar selber nur eine Ideologie sei, ist gerade in Bezug auf Erkenntnisse der Naturwissenschaft schlicht gelogen.
Eine solche Haltung zu Welt und Mensch ist nicht Produkt einer „schrulligen, aber harmlosen Attitüde“, sondern ist im Kern angetrieben von einer erschreckend stabilen Haltung, die Menschen danach unterteilt, von was sie überzeugt sind — und keineswegs daran interessiert ist, intersubjektiv/demokratisch erfahrbares Wissen zugänglich zu machen und gemeinsam zu explorieren. Performative Antikommunikation, in der alles so zurechtgedreht wird, wie es die eigenen Meinung oder die Idedologie, die man vertritt und regelrecht mit sich selber gleichsetzt, will. Dass Pseudowissenschaften rhetorisch vor allem einen ex negativo approach als Taktik verfolgen, haben wir mehrfach, u.a. am Beispiel der GAÄD gesehen. Menschen wie Flatearther zeigen jedoch deutlich, dass der ganze Selbstzweck von pseudowissenschaftlichen Ideologien bewusst auf eine Abgrenzung gegen wissenschaftliches Denken ausgerichtet ist.
Fairerweise sei auch nochmals angemerkt, dass eine solch segregistische Grundhaltung auch daraus entsteht, dass Menschen gerade nach dem ersten Bildungsweg nur wenige gut finanzierbare Bildungsangebote zur Verfügung stehen und dadurch Bildung in ihrer Welt mitunter gar nicht als Option oder Konzept greifbar erscheint, sondern als etwas tendenziell fremdes (ein Erleben das widerum auf einer evidenten Segregation aufbaut, bedenkt man wie ungleich Bildung verteilt ist). Es bleibt Menschen somit oft nichts anderes übrig, als die Welt weitestgehend rein attitüdisch zu verhandeln, könnte man sagen (und werden dadurch auch häufig für Spendeneinnahmen von Pseudowissenschaftlern und sonstigen Vertretern solcher ausgenutzt, bspw. durch Leute wie “Mad Mike” in Bezug auf Flatearther). Gerade an Menschen ohne Perspektiven wird tagtäglich vor allem eine Einteilung rein in „arbeitet / arbeitet nicht“ vollzogen ─ nebst dem sonstigen verachtenswerten Sozialvoyeurismus, bspw. im Privatfernsehen (Arbeitslose und mittlerweile auch schwer Drogenabhängige für Quoten vorführen). Bildung erscheint in solchen Formaten und den Betreffenden selbst oft nie als eine Option oder etwas, dass ihnen fehlt, aber notwendig sei. Vielmehr erhält sich die Gesellschaft anscheinend regelrecht gerne eine ausstaffierte Schicht der ewig Kippelnden und Abgestiegenen, um sich an ihr für einen pfiffigen Abwärtsvergleich aufwerten zu können und sie für populistische Zwecke zu instrumentalisieren. Das bizarre Resultat der kontinuierlichen Respektlosigkeit verstopfter Informationskanäle und der mangelnden Anschlussmöglichkeit an Bildungssysteme ist schlussendlich, dass jener ausgegrenzte Teil der Gesellschaft gerade solche Positionen vertritt und solche Parteien wählt, die gestern wie morgen am wenigsten für ihre Interessen einstanden und einstehen werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass in nicht-akademischen Milieus mit wenig, bis gar keinem Kapital aufzuwachsen bedeutet, dass innerhalb der Familie vor allem ein Verständnis von universitärer Bildung dominiert: dass eine solche auch trotz Bafög etc. einfach sehr viel Geld kostet und man das ja eh nicht bräuchte, weil man arbeiten gehen soll ─ ein klassistischer Umstand, der sich natürlich in solchen Teilen der Gesellschaft ohne realistischen Zugriff zu Bildung im Frust leicht in „alle Abschlüsse sind gekauft“ übersetzten lässt und studieren als “unnötig” verstanden wird (gerade letzteres ist ein klassischer Move derjenigen, die regelrecht vermeiden wollen, dass Menschen etwas lernen und nicht ganz selbstverständlich einfache Überzeugungen repetieren oder vor allem die eigenen Überzeugungen bestätigen). Auch Diskurse in der Wirtschaft spielen gerne Ausbildung gegen universitäre Bildung aus — dass es der Wirtschaft nicht um Bildung, sondern Sicherung des Wachstums von Konzernen und vor allem auch einer Vielfalt in der Auswahl an Auszubildenden geht, sollte dabei vielmehr im Vordergrund stehen, wenn die Zukunft und die Chancen von Menschen verhandelt wird (angemerkt sei, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft, unabhängig vom Wohlstand oder den Idealen der Eltern, Autonomie beanspruchen können sollte, wenn es um Entscheidungen der eignen Bildung geht — derzeit waltet hierbei vor allem der unfaire Zwang zu Familie bei Fragen der Finanzierung und Vielfalt an Chancen).
Dass derat ungleiche Umstände überhaupt bestehen, zeigt vor allem, dass in unserer Gesellschaft Bildung prinzipiell zu wenig für jeden Menschen finanziell eingeplant wird — sowie viel zu wenig an Stellen stattfindet, die außerhalb von Schulen und Universitäten liegen. Bildungseinrichtungen haben auch gar nicht das Ziel sicherzustellen, dass alle etwas komplett verstanden haben (wie bspw. Begriffe wie Medizin und Wissenschaft). Nicht gleichzeitig, aber dass man nicht primär jedem Menschen in einer Schulklasse dieses Erlebnis als Ziel ermöglicht, zumindest bei essentiell wichtigen Themen/Begriffe wie Medizin und Wissenschaft, das fehlt m. E. ─ auch weil daher die eigentliche Leidenschaft, etwas zu lernen, schließlich erwächst (und nein, Waldorfschulen sind natürlich keine Alternative und folgen nur dem gleichen Prinzip wie in der Medizin: Unterwanderung von Bildungsystemen, wie z.B. die Recherche von Oliver Rauthenberg immer wieder zeigt). Stattdessen müssen Bildungseinrichtungen immer einem Selektionsauftrag folgen, der eher wirtschaftlich orientiert ist und durch vorbestehende Ungleichheit natürlich wenig mit dem wirklichen Leistungspotential von vielen Menschen im Bildungssystem zu tun.
Realistischerweise muss man dennoch immer betonen, dass auch sozio-ökonomische Missstände in keiner Weise bspw. derzeitig wirksame antidemokratische und antiwissenschaftliche Eskalationen — bspw. in Deutschland und den USA zwischen 2015 und heute (2024) — rechtfertigen, ohne in ein Toleranzparadox zu verfallen. Niemand ist ohne Verantwortung in einer demokratischen Gesellschaft — Freiheit ohne Verantwortung existiert nicht, selbst wenn Menschen am Rande der Gesellschaft oft nicht die Ressourcen haben, Verantwortung zu übernehmen. Demokratie heißt auch nicht Toleranz für jede Meinung, wenn man wissen kann, dass sie falsch ist oder blanke Lüge. Gleiches gilt auch für Homöopath*innen und dergleichen.
Um neckisch eine pointierte Aussage aus der letzten Fargo-Staffel (einer Fernsehserie) frei zu zitieren: ‘Nur eine Art Mensch kann sich das leisten, Freiheit ohne Verantwortung. — Ein Baby.’ Es mag daher auch nicht verwunderlich gewesen sein, dass Menschen voller Ruhe Yogaübungen neben Menschen mit wehenden Reichsflaggen ausführen konnten, ohne sich dabei zu fragen, für was man da eigentlich einsteht und demonstriert, außer einem kindlich-trotzigen und vor allem selbstbezogenem Widerstand an sich? Am Ende geht es um nichts anderes, außer einem schon ausführlich beschrieben hegemonialen Relativismus, damit statt Demokratie und Wissenschaft vor allem die eigene Überzeugung im Vordergrund stehen kann — die gefühlte Wahrheit — und jegliche Verantwortung und Schuld natürlich immer von anderen getragen werden soll…
Wir haben jetzt so viel auf eher formelle Weise über Wirkung und Medizin gesprochen, eine Sache ging dabei etwas unter: wie wir selber Wirkung erleben und an uns selber zu messen versuchen.
Auch wenn den meisten spätestens jetzt klar sein wird, was unter einer Wirkung in der Medizin zu verstehen ist, lasst uns trotzdem einmal radikal alles in Frage stellen, was wir über die Wirkung eines Medikamentes/Prozederes, auch aus uns selbst heraus, wissen können. Eine Art Selbstversuch in fast kartesischer Unsicherheit, sozusagen.
Wie das ja oft so üblich ist, wenn Menschen über Wissenschaft sprechen, könnten wir ebenfalls gleich ganz groß einsteigen mit unserem Selbstexperiment und als erstes gleich einmal die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Urteile in Frage stellen. Unabhängige Urteile sind ja schließlich schwer bis ggf. gar nicht zu erreichen! So ganz unabhängig urteilt ja niemand aus sich selbst und seinen Erfahrungen heraus! Und woran soll ich denn bitte erkennen können, ob die Urteile anderer oder die selbst meine eigenen Urteile neutral sind? Und es kann ja quasi jeder behaupten, dass etwas wirkt! Das ist doch… ein, ein…. ein…
CIA PUTSCH!! CIA PUTSCH!! BIG PHARMA!! >-0
Nun, natürlich empfehle ich nicht in Situationen von Unsicherheit derart zu eskalieren ─ auch aus dem einfachen Grund, dass man in solchen Momenten von Unsicherheit über die Gewissheit der Wirkung von Medikamenten zumindest darin vollkommen richtig liegt, unsicher zu sein! Weder man selbst noch irgendwer kann alleine aus sich selbst und einer singulären Erfahrung heraus sagen, dass bspw. die 400mg Ibuprofen, die man sich vor 30 min. eingeworfen hat, tatsächlich gegen ─ sagen wir ─ die Zahnschmerzen, die man hatte, geholfen hat. Schmerzen sind auch selten die ganze Zeit präsent und auch nicht immer „unendlich lange“, sodass nicht alleinig die Einnahme einer Ibuprofen dazu führen würde, dass Schmerzen verschwinden oder weniger werden können (abgesehen davon, dass Ibuprofen nur indirekt Schmerzen lindert aufgrund der entzündungshemmenden Wirkung…). Es wäre sicher auch jedem neu, dass auf Beipackzetteln ein Szenario a lá „take the pill oder es erwarten dich unausweichlich kosmische Qualen“ als Einnahmeempfehlung beschrieben werden. Schmerzen kommen oft in Phasen und können viele Ursachen haben!
Neeeeein, nein, nein… Nein, ich sollte nicht gegen meine Unsicherheit argumentieren, sondern sollte mir viel lieber im Namen meiner Unsicherheit eine kleine Stimme im Hintergrund vorstellen, die mir sogar aufgrund meiner Unsicherheit zuapplaudiert! Genau! „CIA-PUT-“, ich meine: „Wirkt das Zeug überhaupt, sag?“
Wenn ich weiter überlege, gilt das gleiche auch für den Fall, dass die Zahnschmerzen nicht aufhören, obwohl man eine Ibuprofen eingenommen hat (bspw. weil zu geringe Dosis usw.). In jedem Falle hat man mit der eigenen Verunsicherung als solcher aber immer vollkommen recht: Allein kann man die Frage der Wirkung häufig gar nicht klären, selbst wenn man ein Medikament einnimmt und das passiert ist, was man sich gewünscht hat. Auch die Empfehlung des geliebten Nachbars ändert nichts an einem solchen Umstand. Und bloß, weil es auf der Packung steht... Nein, das geht gar nicht allein ─ so aus sich selbst heraus, als Konsument.
Wer sich je gefragt hat, warum Statistik so ein großes Thema innerhalb der Wissenschaft darstellt, der kann sich diese Frage jetzt beantworten und direkt mit der eigens erlebten und sicher bekannten Unsicherheit in Verbindung setzen: man selber als sein alleiniger Proband reicht meist einfach nicht aus, um zu belegen, ob etwas gewirkt hat — auch kein magisches “Wissen” hilft uns dabei (auch keine Meinung/Glauben). Auf der anderen Seite muss man auch nicht „alles wissen“ (was auch immer das heißen mag), da die Frage nach dem Wirkungsnachweis immer eine sehr spezifische / bestimmte Frage darstellt. Es sei vielleicht nochmal betont, dass jedoch z.B. das Ereignis „Schmerzen weg“ nicht etwas ist, dass man sich eingebildet hat, wenn man ein solches Ereignis erlebt hat, selbst wenn ein Medikament nicht gewirkt hat! Das obige Ereignis A und Ereignis B ist für sich je selbst gegeben — die (kor-)relationale Abhängigkeit steht in Frage. Gerade deshalb ist es fragwürdig, Patient*innen unnötig an Überzeugungen zu binden, damit Ereignisse wie „Schmerzen weg“ sofort zwanghaft mit einem Präparat/Prozedere als Ursache gekoppelt werden, obwohl ein Wirkungsnachweis fehlt — und das Ausbleiben einer Wirkung vielleicht sowieso mit der “Schulmedizin” oder gar sich selbst in Verbindung gebracht wird. Anders gesagt, kann bei Patient*innen durch eine solche ‘dichotome Logik’ schnell der Eindruck entstehen, dass mit Hinterfragen der Wirkung eines Präparates/Prozederes direkt das eigene Erleben und nicht nur das davon unabhängige eigene oder ideologisch fremdbestimmte Schlussfolgern über den möglichen kausalen Zusammenhang von eigenen Erlebnissen in Frage gestellt wird — dementsprechend eskalieren viele sehr schnell, wenn man Ideologien so behandelt, wie man sie behandeln sollte: sehr kritisch. Das ist schade, weil Patien*innen damit nicht erkennen, dass Medizin der Sache nach ein erstaunliches Gemeinschaftsprojekt ist, an dem man auch als Patient*in aktiv teilnehmen kann. Zudem ist es schade, wie viele zwischenmenschliche Beziehungen durch solche ideologischen Abhängigkeiten zugrunde gehen... Es wird auch im Infotainmentbereich gerne obligat so getan, als wüsse die Wissenschaft, die Menschheit so wenig, weil sie nicht alles weiß (was auch immer “alles wissen” sinnvoll heißen mag). Im Gegenteil, das Gemeinschaftsprojekt hat schon vor Jahrhunderten einen derart absurden Umfang entwickelt, dass kein Mensch mehr alles, “was man aktuell weiß” (was auch immer das genau für eine Menge darstellen könnte) wissen kann, auch wenn es sich lohnt, es zumindest zu versuchen, auch und vor allem um Wissen aufzubereiten und zu erweitern!
Im Alltag ist es daher wirklich traurig, dass Menschen, die zwischen Ursache und reinem Begriff allein konzeptuell nicht mehr unterscheiden können und wollen, häufig regelrecht erpresserisch agieren und sich isolieren, mit der Forderung, dass das “andere” erst Überzeugungen bestätigen müsse, damit dieses “andere” überhaupt als Menschen und nicht als “empathielos”, “intolerant” etc. abgeschrieben wird, wenn es von Wissenschaft spricht (findet auch in Form einer kompletten Tabuisierung eines kritischen Diskurses statt (Exkommunikation), weil man ja “intolerant”, oder gar “gewalttätig”, “gottlos” etc. sei, wenn man kritische Fragen stellt und sich weigert, den Glauben / die Überzeugungen anderer einfach unhinterfragt mitauszuagieren).
Man kann Wissenschaft verstehen lernen, auch als Patient*in und generell gerade als privilegierter Mensch einer de facto wissenschaftlichen und nicht bspw. einer mittelalterlichen und mystisch gespaltenen Gesellschaft (auch wenn sich eine solche derzeit viele in ihrer populistischen Hitzigkeit wünschen mögen).
Eine Unsicherheit zur Wirkung besteht nicht unbedingt in allen Fällen von “Medikamenteneinnahme”, muss man sagen. Eine Sicherheit über die Wirkung besteht jedoch z.B. in der Regel, wenn Medikamente eine sehr stark psychoaktive Wirkung haben, oder sonst direkt und unmittelbar auf das Erleben einwirken (bspw. Opiate, Ketamin, LSD etc.). Inwiefern solche Stoffe über das veränderte Erleben hinaus noch wirken, bleibt dabei unerkannt. So klar in solchen Fällen eine Wirkung sein kann, interessanterweise fällt es uns Menschen wiederum mitunter gar nicht so leicht, die Wirkung selbst von bspw. Alkohol ad hoc zumindest in Bezug auf das veränderte Erleben genau zu beschreiben ─ aus der eigenen Erfahrung heraus, aus dem eigenen Erleben.
Um ein weniger „funky“ anmutendes Beispiel zu liefern für Situationen, in der Wirkung an sich erstmal klar erkennbar erscheint: Eine Methode für das Einrenken eines ausgekugelten Gelenkes wäre etwas, dessen Wirkung unmittelbar geprüft werden kann: sie muss dazu führen, dass das Gelenk wieder eingerenkt wird. Die wirklich geeignete Methode zu finden, bspw. zur Vermeidung von Schäden beim Einrenken, sind dann eher Unsicherheiten, die in solchen Fällen bei der Frage der Wirkung, gerade in der modernen Medizin, bestehen. Ein anderes Beispiel, bei der man die Wirkung und sogar meist die Erkrankung gar nicht an sich merkt, wäre erhöhter Blutdruck und die Wirkung von entsprechenden stabilisierenden Mitteln. In solchen Fällen kann es besonders schwer sein, Patient*innen den Sinn einer Therapie zu vermitteln, weil es keine Therapie ist, deren Konsequenz man direkt erlebt, sondern solche rein präventiv zu vermeiden versucht.
In Kapitel 7 und 8 werden wir unsere Selbsterfahrung nochmal im Kontext von Substanzdualismus/-monismus und sprachlicher Kommunikation reflektieren und uns einem phänomenologischen Leiblichkeitsbegriff widmen. Vorher beleuchten wir jedoch zunächst den Wirkungs- und Evidenzbegriff in der Pseudomedizin noch einmal genauer.
Im letzten Kapitel haben wir herausgefunden, dass wir selber nur in manchen, teils sehr speziellen Fällen klar eine Wirkung von Medikamenten oder einem Prozedere in irgendeiner Form bescheinigen können und daher auch nicht auf einfache Versprechen anderer auf Basis der “eigenen Erfahrung” hören sollten (anekdotische Beweisführung nennt man das auch mitunter). Als nächstes sehen wir uns den Wirkungsbegriff pseudomedizinischer Ideologien genauer an, angefangen mit der Homöopathie.
Eine prinzipielle Kritik an der Homöopathie, die wir bisher noch nicht angesprochen haben, wäre natürlich die klassisch naturwissenschaftliche: Die Annahme der Potenzierung vermeintlich heilender Wirkungen gerade durch iterative Verdünnungsprozesse macht natürlich keinen Sinn — physikalisch, aber auch rein konzeptuell nicht… Allein nach dem universalistischen Wirkanspruch wäre Leitungswasser schon quasi ein gigapotenzierter Supertrank aus unzählbar verdünnten Substanzen, sodass die Produktion und der Konsum von Globuli ohnehin obsolet und Leitungswasser letztlich tödlich wäre.
Lückenfüller für jede Frage nach der Evidenz der Wirkung ist in der Homöopathie aber trotz offensichtlicher Absurdität das immer gleiche zentrale Prinzip: „Similia similibus curentur.“, das qua Optativ (lat. Wunschform) möglich mache, dass verdünntes Uran Krebs heile, oder verdünnter Kaffee beim Einschlafen helfe ─ oder verdünnte Teile der Mauer gegen Soziophobie (oder verdünnter Meteorstaub gegen Corona…). Ja, das sind tatsächlich existierende Beispiele für Globulipräparate. Anders gesagt, gerade das, was ein Symptom auslöst, soll — aber nur in absurd-bizarr-extrem verdünnter (“potenzierter”) Form — helfen gegen das entsprechend resultierende Symptom. Die korrekte deutsche Übersetzung des lateinischen Zauberspruches lautet (qua Konjunktiv/Imperativ = Optativ = eine Möglichkeit einzufordern = Wunsch/Hoffnung = “Etwas das könnte, soll sein.”): „Gleiches möge/könne/solle mit Gleichem geheilt werden“; die Grundidee stammt eigentlich nicht direkt von Hahnemann, sondern war eher eine Art Trend seiner Zeit, da ähnlich konkretistisch anmutende Konzepte wie die Signaturenlehre etc. schon im Umlauf waren (Eichhörnchen gegen Schwindel bspw., mehr dazu siehe diese Vorlesung eines Pharmakologen hier). Eine Impfung kommt ironischer Weise einem solche Prinzip noch am ehesten nahe, obwohl gerade Menschen mit pseudomedizinsichen Ideologien solche ablehnen.
Nun, dieser Essay soll vor allem zeigen, dass man sich für die Kritik an pseudomedizinischen Verfahren eigentlich nicht die Mühe machen sollte, mit zahlreichen Details zu wissenschaftlichen Methoden aufzuwarten, da in jedem Falle nach Analyse der Argumente rein rhetorisch schon klar ist, dass eine Wirkung vor und unabhängig von einer Prüfung angenommen wurde und auf penetrante Weise weiter angenommen wird von Teilen der Gesellschaft (trotz 200 Jahre ausbleibender Belege…). Gleiches gilt für die Flut an vollkommen lächerlichen und schrottigen Pseudostudien (analog im Bereich TCM, Energiearbeit usw. usf.). Für weitere Informationen diesbezüglich, bspw. zur “Studien”-lage, empfehle ich u.a. das kritische “Informationsnetzwerk Homöopathie”, das in den letzten Jahren viel Arbeit für kompetente Aufklärung über Pseudomedizin geleistet hat. Es ist allgemein erschreckend, wie schamlos Pseudomediziner*innen versuchen, den Gestus wissenschaftlicher Medizin auf allen Ebenen zu imitieren, um den Anschein von Wissenschaft zu erzeugen, und alleine damit massiv Zeit und Ressourcen für wirklich relevante Fragen und Probleme der Wissenschaft raubt (eine gezielte Sabotage des Gesundheitssystems könnte man Alternativmedizin auch nennen).
Science-washing und spalterische Logik, wie man das heutzutage nennen kann, ist, wie wir mehrfach gesehen haben, nicht nur nicht unüblich, sondern sogar die Kernaufgabe der Pseudomedizin, um ihr Bestehen zu sichern. Gerade in Bezug auf Studientitel, oder bei der Formulierung der Ergebnisse von Studien, spielt Rhetorik nochmal eine extrem wichtige Rolle. Klassische Beispiele für spitzfindiges Science-washing sind dabei Aussagen wie “Akupunktur hilft bei Schmerzen”. Nein, ein Chi oder ähnliches wurde nicht gemessen. Die Aussage ist auch allein schon deshalb falsch, weil das Meridiansystem schnell widerlegt werden konnte: es ist egal, wo man die Nadel setzt, und eine Wirkung für egal welche erwartete Indikation konnte auch nicht gefunden werden — außer in den üblichen potemkinschen Schrottstudien. Was bleibt übrig, wenn das gesamte Gedankengebäude fällt? Siehe hierfür bspw. diese Leitlinie (klärt u.a. über den Evidenzstand von Therapien auf) zum nicht-spezifischen Kreuzschmerz, letzter Abschnitt in 5.1 — der letztlich sagt: es besteht höchstens eine sehr zweifelhafte/fragwürdige klinische Relevanz des Prozederes, aber wenn alles probiert wurde, ist es eh egal, wirkt aber nun mal einfach nicht und kann höchstens als Placebo missbraucht werden — was man aus ethischen Gründen jedoch nie derart gezielt tun sollte (dangerous implications — shame on you, Leitlinie! Warum kein klares Nein?). Selbst wenn man der Akupunktur und der Tiere verpulvernden TCM im Allgemeinen doch eine Evidenz andichten will, dann muss man jedoch weeenigstens so ehrlich sein, dass das Kernkonzept der Akupunktur, das Meridiansystem, widerlegt wurde und das tragende Konzept damit ebenfalls (als eine Art “Mikroläsionsanalgese”, d.h. Schmerzlinderung durch Verursachung von ‘Mikroschäden’, wie man das noch nennen könnte, taugt es jedoch de facto auch nicht). Gleiches gilt für Aussagen wie “Yoga hilft bei Rückenschmerz” oder dergleichen. Nein, Chakrensysteme usw. wurden natürlich nicht untersucht, alleine schon, weil es sich um reine Begriffe handelt. Es sollte lauten: Gymnastikübungen aus dem Yoga (“Asanas”) können bei Rückenschmerzen helfen — mit dem wichtigen ethischen Vermerk, dass das auch mit jeder anderen nicht-ideologischen Methode möglich ist, die entsprechende Regionen trainiert sozusagen (am Ende sollte es gerade auf dem Lifestylemarkt vor allem um Verbraucherschutz gehen, nicht darum mit ganz viel Überzeugung potentielle Lifestyle-Märkte zu erschließen).
Neben Science-Washing und der systematischen Ignoranz gegenüber jeglichem Maß an wissenschaftlicher Redlichkeit, wird zudem meist rhetorisch versucht, das Konzept der Wirkung in der Medizin von dem Beleg einer solchen Wirkung komplett zu trennen, bspw. via Aussagen nach dem Schema: ‘Homöopathie wirkt, man weiß nur noch nicht genau warum und konnte es halt nicht auch noch naturwissenschaftlich belegen!’ — als sei Wissenschaft halt so ein unnötiges extra — oder auch ‘Wer heilt hat recht!’, oder ‘Mir hat es halt geholfen”. In all den Fällen wird eine Wirkung/Heilung angenommen, ohne dass eine solche belegt wurde (Verdrehung des Inferenzverlaufes). Dass der medizinische Begriff der Wirkung einem Anspruch folgt, der mit Wissenschaft als Etikett bspw. erstmal noch gar nichts zu tun haben kann, sondern unser eigener, intuitiver Anspruch an etwas, dass als Medizin bezeichnet wird, ist, das wissen wir seit den letzten beiden Kapiteln… ‘Wer heilt hat recht.’ — Wer lügt verliert es? — ja, und sollte sich nicht mehr als “Heiler*in” vermarkten dürfen.
Am besten demonstrieren epistemische Verdrehungen immer noch die Vertreter der entsprechenden Produkte selber. Hier beispielhaft ein kurzes Transkript aus einem Interview mit Dr. (sic!) Uwe Friedrich (aus der Dokumentation „Globuli - Warum der ewige Streit nicht endet“; kann auf dem youtube Kanal des hessischen Rundfunks gefunden werden (Stand 01.2024), ab Minute 2:25).
Interviewerin nach einem Weiterbildungsseminar für Homöopathie von Uwe Friedrich:
„Sie haben gerade im Kurs erzählt, dass sie Long-Covid heilen können und Corona heilen können. Stützen sie das auf ihre Erfahrungswerte, oder worauf genau stützen sie das?“
Uwe Friedrich:
„Auf die Homöopathie! Das ist für ─ für [*schüttelt den Kopf*] für sie vielleicht oder für uns, wenn wir rein schulmedizinisch denken, [ein] bisschen komisch, wenn wir das so hören [*lacht*], aber die Homöopathie, die ist ja ein ganz anderes Wissenschaftsgebäude als die Schulmedizin, deswegen fällt es auch vielen von uns Schulmedizinern schwer, das zu lernen — weil wir umdenken müssen. Aber in der Homöopathie gibt es eben Regeln und Gesetze, die garantiert funktionieren, wenn alles stimmt [gemeint ist hier ziemlich sicher das Therapiesetting, weniger der Beleg der Wirkung, da gerade die Homöopathie dafür bekannt ist, die ausbleibende Wirkung als Fehler bei der Einnahme im Patienten zu suchen und nicht beim Verfahren]. Und eines dieser Gesetze ist eben, wenn ich Symptome hab, [bspw.] Atemnot, Husten, Schmerzen, Fieber, Kopfschmerzen habe ─ die[se Symptome] gabs schon immer ─ und für diese Symptome gibt es Mittel. Und wenn wir diese Mittel für diese Symptome finden ─ und das ist schon auch über 200 Jahre bekannt, wie die lauten [gemeint ist die Erfindung der Homöopathie] — dann funktioniert das [*klatscht in die Hände*]. Das ist diese homöopathische Gesetzmäßigkeit.“ […]
Wie vorhergesagt: Nicht nur laut homöopathischer Ärzt*innen, sondern sogar aus den Gesetzen der Homöopathie selber definiert sich die Notwendigkeit der Wirkung selbst (These = Daten). Ich sage auch deshalb „vorhergesagt“, da ich nicht mal zwei Minuten Recherche gebraucht habe, um ein derart wirres Zitat wie oben zu finden — vollgespickt mit der gesamten manipulativen Poetik, wie wir sie schon mehrfach analysiert und besprochen haben. Eine Überheblichkeit, die einfach nur gefährlich ist, auch wenn sie performativ wie ein Monolog aus ‘Warten auf Godot’ klingen mag — sich auf absurd-tragische Weise verrennt, sodass man als reflektierter Zuhörer erstmal ggf. schlicht peinlich-berührt zurücktritt. — Nein, es bedarf konfrontativer Schritte nach vorn.
Meine Suchanfrage auf youtube lautete „homöopathie doku interview“ und ich kam sofort zur besagten Doku des HR. In der Vergangenheit hat mitunter der Dokumentarfilm von Erik Lembke „Homöopathie unwiderlegt?“ ebenso deutlich gezeigt, dass man eigentlich nicht mal einen Kommentar bräuchte, um Homöopathie in ein kritisches Licht zu bringen, da die Vertreter*innen in der Regel von alleine unglaublich schnell bereit sind, selbst ihren ganzen Wahnsinn auszubreiten — daher besteht der Dokumentarfilm meist aus unkommentierten Aussagen von Homöopath*innen.
Ja, ich sage an dieser Stelle wieder bewusst Wahnsinn (egal ob isoliert, “überwertige (fixe) Ideen” oder deutlicher ausgeprägtes), da Menschen, die nicht nur aus beiläufiger Naivität oder Hoffnung, sondern dermaßen vehement homöopathische und sonstige pseudowissenschaftliche Überzeugungen verbreiten (speziell Ärzt*innen und “Heilpraktiker*innen”), eigentlich ganz klar eine Fremd- und Selbstgefährdung darstellen. Die einzige Betrachtungsalternative wäre es, von gezielter Manipulation auszugehen — nicht weniger fremdgefährdend. Die einzige Behandlung, die jedoch notwendig und ethisch vertretbar wäre, ist die Aberkennung medizinischer und pharmakologischer Siegel und Titel: kein Verkauf in Apotheken, keine Bewerbung als Medizin erlauben, Kassenleistungen streichen — und vor allem mehr allg. Aufklärung darüber, was Wissenschaft ist, in Apotheken und durch Mediziner*innen (nicht durch Heilpraktiker*innen). Neben der klaren Abschaffung des “Heil”praktikertums, wäre eine Streichung der Approbation von verblendeten Ärzt*innen ebenso sinnvoll wie notwendig, da man von Menschen mit einer entsprechenden akademischen oder fachlichen Ausbildung eigentlich erwarten können muss, derart offensichtliche Manipulationen im Gesundheitswesen als solche zu erkennen und entsprechend ethisch zu handeln. Begrifflich würde ich dabei bspw. den Begriff der psychischen Krankheit von Andreas Heinz heranziehen, der versucht den psychiatrischen Krankheitsbegriff nicht primär von konkreten Urteilen über oder der Interpretationen von wahnhaft-bizarren Inhalten abhängig zu machen — was in vielen Fällen epistemisch nicht ohne Aufwand zu klären wäre —, sondern von der besagten Eigen- und Fremdgefährdung (der Fokus dieses Essays liegt ebenfalls weniger auf den bizarren Inhalten, sondern der Verklitterung von Kommunikations- und Inferenzstruktur durch Pseudomediziner*innen und inwiefern gerade diese eine klare Gefahr darstellt). Dabei spielt es wenig eine Rolle, ob es sich um bewusste Manipulation oder schlicht “Verblendung” handelt, in jedem Falle stellen Menschen innherlab des Gesundheitswesen mit derartigen Neigungen, Kommunikationswege und Menschen aus egal welcher Motivation heraus zu manipulieren, schlicht eine Gefahr dar. Rein inhaltlich muss man jedoch sagen, verfolgen Pseudowissenschaftler*innen jedoch bekanntlich z.B. durchaus ganz deutlich als paranoid charakterisierbare Narrative, die auch leicht prüfbar sind: Impfungen würden die Persönlichkeit verändern, löse Autismus aus — später, während der Covidpandemie, kamen dann noch Erzählungen von injizierten Computerchips hinzu… Evidenz gibt es dafür natürlich keine… Solche Erzählungen zu diskutieren, ist letztlich sinnlos, da den meisten Menschen vor allen ein Grundbegriff von Wissenschaft fehlt oder gezielt ablehnen und daher Kommunikation häufig nicht gelingt, und das Kernziel sowieso gezielte Segregation der Gesellschaft ist.
In jedem Fall darf es nicht sein, dass man die Gesellschaft unvorbereitet auf ein unterwandertes medizinisches Angebot loslässt, das man selbst qualitativ einschätzen muss in solch einem extremen Maße. Dass solche Umstände bestehen, zeigt, dass Pseudowissenschaftler*innen in Deutschland extrem viel erreichen können — auch durch bizarre Gesetze wie dem Binnenkonsens: Medizin und Wissenschaft wird zum Glaubens-/Meinungsakt verklärt, den man selber leisten muss, bevor man behandelt wird: vor jeder Entscheidung zu einer medizinischen Behandlung (Gang zum Arzt) kann eine Bifurkation vorgeschaltet werden, die nochmal zwischen Ärzt*innen und Heilpraktiker*innen unterscheidet — eine rhetorische Unterscheidung, die es gar nicht geben dürfte in einer Demokratie, die sich für medizinische Qualitätssicherung einsetzt. Es darf daher nicht sein, dass sich sowohl die Wissenschaft als auch Politik in eine apologetische Rolle drängen lässt und sich so verhält, als seien ewige Qualitätsfragen in Bezug auf Pseudomedizin notwendig, um nicht mehr, als nur dem immer gleichen Taktieren auf den Leim zu gehen — eine ‘Biedermann und die Brandstifter’ Situation in der Kommunikation, geschaffen von jedem, der sich selbst in eine solche immer wieder prüfende und entschuldigende Höflichkeit drängen lässt, mehr nicht. Menschen, die qua Ideologie aktiv und ganz offen die Redlichkeit von Diskursen unterwandern, müssen aus den entsprechenden Diskursen ausgeschlossen werden — nicht in noch ein Talkshow eingeladen werden, nicht noch eine Extraberufsbezeichnung bekommen, nicht noch ein Siegel …
Am Ende steht und fällt die Relevanz pseudomedizinischer Verfahren mit der symbolischen und lobbyistischen Legitimität durch institutionelle Verankerungen jeglicher Art — selbst in Form von vermeintlich harmlos klingendem Verteilermails—, sowie durch Menschen, die daran erfolgreich auf unredliche Weise vor allem Geld verdienen und sich Ansehen und Relevanz erschwindeln — ob nun aus Wahn oder gezielter Manipulation spielt im Tal überwundener Inhalte keine Rolle im Umgang und Diskurs (Institutionen wie die besagte Carsten-Stiftung bspw., aber auch Gesetze wie der Binnenkonsens ermöglichen mitunter viel zu erfolgreich solche eigentlich erschütterenden Umstände — zu letzterem “Gesetz” siehe u.a. diesen Artikel des INH).
Wie können wir die epistemischen Verhältnisse unseres Selbstexperimentes noch genauer beschreiben, auch in Bezug auf Erkenntnisse der Physik und grundlegender philsophischer Diskurse rundherum? Und warum stellt man Konzepte wie Reinkarnation etc. eigentlich wissenschaftlich genau in Frage? Bevor ich abschließend ein die Sprache erweiterndes Konzept vorstelle, mit der sich epistemische Verklitterung jeglicher Art vermeiden ließe, werden wir uns als Vorbereitung darauf noch kurz zweier vieldiskutierter Konzepte aus der sogenannten “Philosophie des Geistes” zuwenden — dem Konzepten des Substanzdualismus und des Substanzmonismus.
Wie wir gesehen haben, kann ein beiläufiger/naiver Inferenzverlauf, mit dem wir uns selbst die Wirkung von Medizin erklären, inetwa so aussehen: “Wenn ich ein Medikament konsumiert habe, wird es durch den Konsum zu einem Teil von mir / wirkt automatisch auf meinen Körper, weil es ja ein Medikament ist, und dann erlebe ich diese Wirkung” — so ggf. die schleifende Annahme. Problematisch ist hierbei die Annahme einer notwendigen oder überhaupt existierenden Wechselbeziehung, die logisch betrachtet zu unnötigen Redundanzen und Erwartungen an nichtexistierende Prozesse führen kann. Insofern kann man sagen: Eine Möglichkeit zu erklären, warum Menschen von einer Notwendigkeit einer Wirkung nach dem Konsum eines vermeintlichen Medikamentes ausgehen, ist zuvorderst die Annahme einer notwendigen und direkten Verbindung zwischen Körper und Erwarten auf ein Erleben. Auf der anderen Seite basiert die Annahme einer solchen Notwendigkeit der Konsequenz vom Körperlichen auf das Erleben auf Basis einer Erwartung einer Wirkung eines Medikamentes, aber auch gerade auf einer gespaltenen bzw. substanzdualistisch betrachteten Wechselbeziehung zwischen dem Erleben und der eigenen Präsenz als Körper. Substanz meint hierbei, dass “Körper und Geist”, wie es oft heißt, für sich selber und unabhängig existieren könnten (alternativ “Leib/Seele”).
Im Alltag und auch in der medizinischen Alltagskommunikation herrscht allein rein sprachlich / alltagspsychologisch meist ein dualistisches Verständnis: man hat irgendwie Kognitionen, ein Subjekt des Erkennens, ein Erleben — man nenne es, wie man es möchte — und auf der anderen Seite hat man irgendwie eine körperliche Präsenz, der man sich auch in der Regel basal bzw. grundlegend bewusst ist: man ist etwas in der Welt. Sprachlich ergibt sich eine Tendenz zum Substanzdualismus auch deshalb, weil bspw. Sprachen eine Subjekt-Prädikat-Objekt Struktur vorgeben — was beim Bezug auf sich selbst (egal ob verbalisiert oder relfektiert) einige relationale Besonderheiten aufweist, wie wir vor allem in Kapitel 8 sehen werden.
Nun, was ist das eigentliche Problem an dem Konzept Substanzdualismus, wenn es doch selbst sprachlich (auf latente Art und Weise) etabliert ist? Es gibt viele Gründe, warum man Substanzdualismus als ein überholtes und in der Anwendung problematischen Konzept bezeichnet. Ein Grund lautet, dass es dazu verleitet, aufgrund von körperlichen Symptomen, immer eine entsprechende psychische Ursache und vice versa zu suchen und als Interdependenznarrativ zurechtzulegen, obwohl man leider nur einen ziemlich beschränkten Blick auf interne Prozesse hat, und die allermeisten Prozesse, die in einem ablaufen, ohnehin nicht spürt/erlebt und daher auch nicht aus sich selbst heraus bennen oder reflektieren kann. Symptomen immer wieder mit random Narrativen zu begegnen wie “dein Körper will dir xyz damit sagen” sind letzlich gefährlich, wenn sie keine diagnostische und wissenschaftliche Basis haben, da es auch zu einer Überhermeneutisierung des Verhältnisses zwischen Körper und “Geist” (besser Kognition) verleiten kann (die bspw. Angst machen kann). Ähnliches Problem findet sich in der Psychoanalyse, die immer davon ausgeht, dass jedes Symptom jedes Leid in der Kindheit zu verorten sei — und es damit oft schwer möglich macht, Belastungen z.B. auf aktuellen sozioökonomischen Druck in der Gesellschaft zurückzuführen, wenn das Ziel der Therapie ist, ein betont individualistisches und deterministisches Psychonarrativ zu verfassen. Ein hermeneutisches Isolationsbedürfnis ist nicht nur politisch oder wissenschaftlich problematisch, sei etwas neutraler gesprochen angemerkt, sondern vor allem psycho-sozial schränkt es den Handlungsrahmen, die Kontigenz deutlich ein, wenn Kommunikationswege ideologisch eingeschränkt werden.
Generell geht man aktuell in der Wissenschaft von einem doppelten Monismus aus (geht mitunter auf Baruch de Spinoza zurück): körperliche Prozesse und kognitive Prozesse sind zwei Betrachtungen des Gleichen. Wissenschaftlich bezieht sich das jedoch nicht wirklich auf eine Perspektive, die einen Bezug auf unser Erleben erlaubt, da mit einem doppeltem Monismus ein physikalischer Umstand und ein sprachlicher Umstand zugleich differenziert angesprochen wird: physikalisch adressiert der doppelte Monismus zum einen die Äquivalenz von Masse und Energie (
Im Falle der Herstellung eines spezifischen Zusammenhangs zwischen gemessener Hirnaktivität und bspw. dem Ausführen einer kognitiven Aufgabe (rechnen bspw.) spricht man auch gerne von Repräsentationalismus — ein schwieriges und umstrittenes Konzept, wenn es darum geht, bestimmte Hirnregionen für bestimmte Aufgaben klar zu ermitteln. Probleme sind dabei mitunter technischer Natur: Auflösung und “Aufnahmegeschwindigkeit” von bspw. fMRTs qua BOLD-Signal. Differenzierungen sind zwar dennoch möglich, aber für manche Fragestellungen eher allg. und explorativ; ein EEG erfasst weitestgehend nur Signale aus kortikalen Region und eigent sich daher auch nicht für viele Fragestellungen (Kortex = äußere (Rinden-)Regionen des Gehirns, nahe der Schädelkalotte (der Schädelknochen hat einen isolierenden Effekt, daher sind Aktivitäten in subkortikalen Regionen nur schwer via einem EEG (Dioden die auf dem äußeren Teil der Schädelkalotte verteilt sind) zu beurteilen)).
Die Tatsache, dass eine zuhauf belegbare Äquivalenz von Masse und Energie besteht, ist auf jeden Fall der Grund, warum bspw. Jenseits- oder Reinkarnationstheorien bzw. -vorstellungen, wie sie die Antroposophie oder Glaubenssysteme vertreten, ein grundlegendes Problem für die Wissenschaft darstellen, auch wenn allein aus methodischer Sicht solche Überzeugungen problematisch sind. Man sagt dann meist vorsichtig, es existiert für solche Theorien keine Evidenz — anders gesagt, es gibt keinen Grund, keine Theorie, mit der man die bestehende Welt beschreiben, erklären und vorhersagen kann, die in irgendeiner Form die Annahme vertritt, dass Reinkarnationen überhaupt stattfänden könnten unter den gegebenen Bedingungen unseres Daseins und unserer Entstehung in der Welt außerhalb bzw. unabhängig von unserem Erleben und Denken. Das ist die formale Art, solchen Annahmen wie Reinkarnation rein in Bezug auf die wissenschaftliche Evidenz zu begegnen, d.h. im Sinn der Ergebnisse der Wissenschaft als ein Tragen der Beweislast und nicht nur der Überzeugung. Ich hoffe, dass ich bis hier hin zeigen konnte, dass pseudowissenschaftliche Theorien jeglicher Art schon allein methodisch widerlegt werden können. Einfacher gedacht stellt sich jedoch allein schon die Frage, wie man denn überhaupt meint zu Erkenntnissen zu kommen, dass solche Theorien wie Reinkarnation möglich seien und auch allgemein notwendig wären, außer durch externe Konditionierung/Erziehung oder psychologischer Funktionalisierung? Man muss es glauben, letztlich — und gerade hier besteht wieder das Problem einer epistemischen Abspaltung der Gesellschaft durch das auf grundlegend epsitemsicher Ebene segregistische Einfordern einer unbegründeten und unabhängig unerlebbaren sowie faktisch widersprüchlichen a priori Evidenz solcher Vorstellung und Ideologien im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die nicht a priori diesen Überzeugungen ausgesetzt sind oder die Welt derart gefiltert erleben wollen oder können (Eskapismus muss man sich auch leisten können).
Zusammengefasst in der Sprache der Physik kann man Jenseits- und Reinkarnationstheorien wie folgt entgegnen, auch wenn die Äquivalenz von Masse und Energie formell viel zu einfach klingen mag, wenn man die Begriffe und Physik nicht hinterfragt, kritisch erwandert und mit Phänomenen in der Welt in Bezug setzt: — Masse ist Energie, das ist die Message bzw. die Konsequenz von Einsteins bekannter Formel und vielen anderen Erkenntnissen der Physik — wir tragen demnach keine Informationen “von dem einen in ein anderes Leben”, weil Körper und Geist getrennt seien, und schon gar keine “Schuld durch Reinkarnation” oder ähnliches, ohne zumindest immer beides zugleich repräsentieren zu müssen: Masse und Energie. Eine solche angenommen Kontinuität, wie sie Reinkarnations- und Jenseitsvorstellungen annehmen, schließt ein Sterben und dem damit verbundenen Anstieg an Entropie (d.h., dem Verfall) schlicht aus, da sonst eine verlustfreie Übertragung von einem zu einem anderen Zeitpunkt nicht möglich wäre. Das Thema Sterben wäre damit vom Tisch, um eine gewisse Informationskontinuität erreichen zu wollen — auch alleine schon, weil Leben per Definition in der Physik als das Überwinden oder Hinauszögern einer stetig steigenden Entropie beschrieben und sehr leicht als solches auch beobachtet werden kann, ohne alle Details über das Leben wissen oder verstehen zu müssen (Menschen sterben und kommen nicht mehr zurück, dass wissen wir als Gesellschaft, selbst wenn wir, d.h. wir als je einzelne, das nicht glauben oder wahrhaben wollen). Was wir alleinig bekanntlich gelernt haben zu übermitteln, ist Information in Form von Sprache, kulturellen Erzeugnissen usw. — Informationen, die wir in der Welt und nicht jenseits dieser geschaffen haben und vernehmen können.
Das Überwinden von Entropie macht das Leben zu einer sehr abenteuerlich-tentativen Angelegenheit — stellt jedoch sicher kein deterministisch-fatalistisches Hermeneutikspiel irgendwelcher Kräfte dar, die man weder erklären, noch beobachten, sondern nur glauben könne. Leben und Tod mag ein empfindliches Thema sein, das sollte aber niemals heißen, dass man aufhören sollte darüber zu sprechen, was man darüber wissen kann, sonst betreiben wir indirekt Segregation, verklittern Information. Man könnte daher fragen: ist es wirklich empathisch und tolerant, jemandem in irgendeinem Glauben zu lassen, auch wenn man mehr darüber weiß, oder ist das nicht der Ursprung von Klassismus, dass Bildung in solchen Momenten nicht weitegreicht und kommuniziert wird, obwohl es möglich wäre?
Eine ähnliche Taktitk eines magischen Informationsaustausches qua Substanzdualismus, wie Jenseits- und Reinkarnationstheorien sie praktizieren, verfolgt auch die der Antroposophie nahen Homöopathie, die bekanntlich vorgibt, dass die Wirkung von Globuli darin bestehe, dass es durch die Pseudopotenzierung durch Verdünnung und Verschüttelung zu einem lakonisch benannten “Informationsaustausch” käme (für einen korrekten Informationsbegriff in der Physik und Informatik siehe bspw. diese Tutorien zum Thema Informationstheorie; auch die Gesiteswissenschaft (bspw. die Relevanztheorie von Sperber/Wilson), sowie leider auch systemisch-therapeutische Ansätze in der Praxis haben mitunter Probleme, Informations-/Systemtheoriebegriffe historisch und fachlich korrekt zu rezipieren und zu benennen, ohne sich ins rein begrifflich-rhetorische zu flüchten und mitunter ins esoterische abzudriften (bspw. im Coaching-Bereich); auch der “Holismus”-begriff stammt aus systemtheoretischen Diskursen, ist aber außerhalb redlicher Wissenschaft komplett zur Begriffshalde verkommen).
Wer sich je gefragt hat, warum die Relativitätstheorie von Einstein so eine “riesen Sache” gewesen ist im 20. Jahrhundert, der weiß jetzt, dass gerade die Äquivalenz von Masse und Energie als physikalisch belegte Abgrenzung zum Substanzdualismus eines der Hauptgründe war, da somit eine ganze Reihe von Glaubenssystemen endlich konsequent angegriffen werden konnte.
Trotz Erkenntnissen der Wissenschaft, stellt man die Frage, wie offen der Diskurs bspw. in Bezug auf die Konsequenz der Physik gestaltet ist, so zeigt sich, dass Menschen einen im gesellschaftlichen Kontext mitunter regelrecht erpressen mit ihren Überzeugungen, schon vorweg eine selbstverständliche “Toleranz” vorwurfsvoll einklagen, einen in apologetische Rollen treiben: bestätige mir erst meinen Glauben, dann können wir reden — etwas das in den letzten Jahren immer mehr ausgelebt wird. Anders gesagt: imitiere meinen Code, meinen Ausdruck und dann schalte ich die Kommunikation teilweise frei, sonst nicht, höre ich weg, weil ist nicht “ganzheitlich” genug oder gar “gottlos” ist usw.
Die Leugnung der Wissenschaft, z.B. in Form der Leugnung ihrer Ergebnisse, ist schnell getan. Wie ubiquitär erfahrbar, banal und ohne eigene Überzeugung nachprüfbar solche Ergebnisse sind, ist vielen Menschen nicht bewusst. Die relativistische Korrektur, die GPS bspw. ermöglicht, ist ein extrem banales Beispiel dafür, wie man selber zigfach täglich eine Bestätigung der Vorhersagen der Relativitätstheorie vollzieht (und zudem nochmals erklärt, warum eine genaue Berechnung der eigenen Position in der Welt gar nicht so einfach ist, wenn es keinen raumzeitlichen Ursprungspunkt gibt und daher alles “relativ” zueinander zu betrachten ist). Solche Informationen sollte man nicht einfach schlicht ignorieren, wenn man derartige leugnerische Urteile fällt — mitunter aus einer lang gepflegten Überheblichkeit und vor allem ganz viel Glauben, der über allem zu stehen hat. Wir werden es nicht schaffen, die unzähligen Glaubenssysteme hinüber in eine ethisch vertretbare demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu retten, und sollten es auch nicht mehr versuchen zum Preis von ‘false-balance’ und Toleranzparadoxa im öffentlichen Diskurs, wenn doch gerade der reine “Glaube”, die reine “Meinung” usw. das ist, was Gesellschaften derzeit polarisiert und mitunter regelrecht zersetzt hat, am deutlichsten in den letzten 10-15 Jahren...
Um die Problematik eines Substanzdualismus nochmal anhand von sprachlichen Gewohnheiten performativ zu verdeutlichen und zudem nochmals an uns selbst zu reflektieren, werden wir uns zur Abwechslung und zum Abschluss einige rein poetische Beispiele ansehen und analysieren. Thematisch werden wir uns daher kurz vor Schluss ein wenig vom Thema Pseudomedizin/-wissenschaft wegbewegen und uns dem Thema Sprache und Kommunikation im Allgemeinen zuwenden. Dieses letzte Kapitel bietet auch einen Lösungsvorschlag für viele der bisher beschriebenen Kommunikationsprobleme und soll auch noch mal zeigen, dass es zuhauf Möglichkeiten gibt, sich kreativ mit sich selbst, dem Leben und der Welt auseinanderzusetzen, ohne sich dabei selbst auf jegliche Art von Glaubenssystemen reduzieren zu müssen. Salopp gesagt, wer von all der Kritik bis hier hin schon genervt ist, der kann sich jetzt auf einen deutlichen Perspektivwechsel im Diskurs hin zum ‘Poietischen’ freuen.
Ansehen werden wir uns als ersten einen mehr oder minder zufällig entstandenen Satz, den ich im Zuge eigener literarischer Versuche verfasst habe und selber mehrmals darüber gestolpert bin beim Lesen — ich hatte Schwierigkeiten daran anzuschließen und wusste zunächst nicht genau warum.
Vorweg sei gesagt, dass unten unter ‘Strömen’ das gleiche wie mit ‘Denken’ gemeint ist, nur mit einer Betonung auf den prozessualen (“fließenden”) Charakter dessen, was man ‘Denken’ nennen kann — nicht auf das momenthaft-lokale oder konkret-referenzielle (= ein bestimmter Gedanke bspw.). In der Literatur gibt es auch einen Schreibstil mit der Bezeichnung “Stream of Consciousness” — genau jener Bezug ist gemeint (der Stil ist u.a. bei James Joyce zu finden). Generell kann der Effekt, den der untere Satz auslöst, auch analog zu dem verstanden werden, was man für visuelle Effekte “Kippfiguren” nennt — eine sprachliche Kippfigur, sozusagen:
“Dein Strömen unterbricht die Schwere deines Nackens, der als Welt in deine Denke schwappt.” [Komplette Stelle]
Das kippelnde Moment besteht darin, dass man die Subjekt-Objekt Struktur des Hauptsatzes unter Berücksichtigung des Kontextes des Relativsatzes unterschiedlich interpretieren kann. Geht man ad hoc davon aus, dass das “Strömen” oder das ‘Geistige’ das syntaktische Subjekt darstellt, und “die Schwere des Nackens” das Objekt, so verwirrt der Relativsatz inhaltlich dieses Verhältnis, da es im Relativsatz ja auf einmal heißt, dass der Nacken als “Welt” der aktive Part in der Unterbrechung sei, nicht das ‘Denken’ im Sinne von “Strömen”: — der Nacken “schwappt” als “Welt” in die “Denke” — wobei hier zudem wiederum Welt im Sinne von ‘schwappt’ als prozessual beschrieben wird (Wasser, Fluß, fließen…) und ‘Denken’ als etwas momenthaft-lokales bzw. ‘objekthaft’ (referenzhaft, weniger etwas relationales). Der Relativsatz bringt somit das Subjekt-Objekt Verhältnis des Hauptsatzes u. U. ins Kippeln bzw. dessen Diathese — die Handlungsrichtung im Sinne einer aktiv/passiv Form (formeller könnte man auch von einem metonymischer Kippeleffekt sprechen (Kippeln der Kontiguität/Korrelationalität (Kippeln der “Einflussrichtung”))). Da es in der deutschen Sprache, gerade in Bezug auf Lyrik, gar nicht unüblich ist, mit dem Objekt anzufangen und aktiv/passiv Formen elliptisch auszulassen, könnte der Hauptsatz für sich schon in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Derartige Unsicherheiten hängen jedoch auch stark von der Sprache des restlichen Textes ab, in der so ein Satz eingebettet ist — ggf. wurde z.B. häufiger mit dem Objekt in Sätzen begonnen bzw. die Handlungsrichtung schon in vorherigen Sätzen definiert (eine Art Priming eben, sozusagen). Auch korrespondierende Artikel bleiben in Bezug auf den Kasus bzw. auf der semantischen Ebene grammatisch ambiguitiv.
Die Frage, die bleibt, ist daher auf verschiedensten Ebenen — auch philosophisch —: Wer unterbricht wen? Der Körper den Geist oder der Geist den Körper? Und was ist mit der Schwere des Nackens gemeint? Nackenschmerzen, Nackensteife, die Schwere unseres Kopfes — alles erlebbar, aber die Schwere des Nackens? In jedem Falle erzeugt der obige Satz ähnliche Probleme, wie wir sie im Kontext von Substanzdualismus und gedoppeltem Monismus besprochen haben (ich könnte noch seitenweise weiter analysieren, würde das aber auf ein andermal verschieben; der obige Satz ist zudem jener, den ich derzeit immer nutze, um die Fähigkeiten von KI-Modellen zu testen — und nein, LLMs sich nicht im Ansatz dazu fähig, eine kompetente Analyse zu vollziehen und überzeugen mich daher nicht (lässt sich dadurch erklären, dass LLMs wie ChatGPT rein passive Perzeption betreiben bzw. nicht verleiblicht strukturiert sind (action/perception), siehe Pezzulo et. al oder diesen Tutorial/Essay von mir für weiter Gedanken dazu (Update 08.2024: mittlerweile kann ChatGPT eine Analyse vollziehen, jedoch ist der Text auch schon seit einer Weile online, d.h. stand ChatGPT schon zur Verfügung; zudem hatte ich schon früher derartige Analysen online geteilt, bspw. früher auf der Plattform Medium; es funktionierte beim letzten Mal zumindest mit dem Hinweis im Prompt, dass eine “interessante Ambiguität” bestehe, die ChatGPT analysieren sollte — nichtsdestotrotz sind LLMs Modelle ohne aktive “agency” in jeglicher Weise, auch wenn es faszinierend ist, “that it kind of works”, aber noch zu wenig mit echter Kognition zu tun hat; ich nutze ChatGPT bewusst für gar nichts, und den Opportunismus, den viele derzeit auch in der Wissenschaft für Textproduktion begehen, verachte ich sehr (spezifische Anwendungen, wie AlphaFold usw. halte ich jedoch mitunter für durchaus nützlich)).
Rein inhaltlich beschreibt der obige Satz übrigens etwas eher Banales. Wenn man syntaktisch vom Relativsatz ausgeht, dann beschreibt er etwas wie ein kurzes Einnicken, bei dem einem der Kopf kurz abkippt, weil man “wegträumt” oder ähnliches, man aber wieder kurz erwacht und ggf. auch leicht erschrickt (ganz lose betrachtet/interpretiert und vom Relativsatz aus gedeutet). Geht man trotz Relativsatz davon aus, dass das Strömen das Subjekt ist, dann könnte es einen Einfall beschreiben, der einen “wachruft” sozusagen, bspw. weil man irgendetwas vergessen hat, z.B. Essen auf dem Herd oder einen Termin — aber auch Erkenntnismomente können damit gemeint sein, die den Kopf wieder aufrichten lassen (eine Erkenntnis, die einen “wachrüttelt”, eine gute Idee oder mögliche Lösung für ein Problem bspw. — auf jeden Fall etwas, auf das plötzlich alle Aufmerksamkeit gerichtet wird). Zusammengefasst könnte man in Bezug auf das, was der Satz beschreiben könnte, auch fragen: geht es ums Einschlafen oder Aufwachen? Oder irgendwie beides, aber wenn, dann in welcher Reihenfolge!?
Ein anderes Beispiel mit weniger gewichtigen philosophischen Implikationen wäre der Satz:
“Dein Haus zerstört ein UFO.”
Wer zerstört wen? Das Haus kann der Erwartung nach das Subjekt sein, m.E. ist man sich jedoch beim Lesen nicht sofort im Klaren, dass das Haus dasjenige Subjekt ist, das tatsächlich auch ein UFO zerstört, und nicht umgekehrt — wie wahrscheinlich eher von einem typischen fiktionalen UFO-Invasionsszenario zu erwarten wäre. Insofern hat der obige Satz das Potenzial, Ambiguitäten in Bezug auf die Syntax und somit auch auf die Semantik und vice-versa zu erzeugen, indem er inhaltlich die Erwartung an den Handlungsverlauf zerstreut. Der Satz kann auch so gelesen werden, dass das Haus das Objekt ist — auch wenn man den Satz in so einem Falle wieder etwas poetischer lesen muss ggf. (je nach Stil erlauben es einem Ellipsen bspw., dass man zusätzliche passiv Formen auslässt (“Dein Haus wird von einem UFO zerstört.”)). Aspekte wie inhaltlicher Kontext (gesamter Textkorpus) und grammatische Gewohnheiten spielen in solchen Fällen u.U. ebenfalls eine Rolle: ein “Priming” durch den Duktus eines Textes, den man liest, sozusagen, sowie der inhaltliche Kontext (gibt es in der Erzählung ein Haus mit military defense system?).
Viele Möglichkeiten bestehen, um mit Sprache poetisch so zu spielen, sodass derartige Ambiguitäten der relationalen Verhältnisse entweder vermieden werden, oder sogar bspw. literarisch funktionalisiert werden, um eben solche Ambivalenzen gezielt zu provozieren. Was auf der einen Seite ganz wunderbar und schön klingen mag — der ein oder andere mag es schon erahnen — ist natürlich auch etwas, mit dem Menschen gezielt verwirrt und auch manipuliert werden können. So zu tun, als wäre die These schon die Daten oder dass man anfängt sich die These so zurechtzulegen, dass sie zu den Daten passt, hatten wir schon weiter oben kurz angesprochen.
Im medizinischen Alltag gibt es zahlreiche Situationen, in der solche Kippelmomente eine auf den ersten Blick banale, aber sehr gut zu beschreibende Problematik eines impliziten Substanzdualismus im Sprachgebrauch verdeutlichen können. Bevor wir uns entsprechenden Beispiele zuwenden, werden wir uns zuvor eine Alternative zu einem Substanzdualismus und teils auch zu einem gedoppelten Monismus ansehen.
Ein Weg, um Probleme des Konzeptes Substanzdualismus nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch epistemisch zu umgehen, ist vermittels der Unterscheidung Leib, Körper und Erleben. Die Unterscheidung basiert dabei nicht nur auf einem Konzept (u.a. Husserl, Merleau-Ponty), sondern vor allem auf einer reflektierten und einfach reproduzierbaren Selbsterfahrung, für dessen Beschreibung und Ausdruck die begriffliche Unterscheidung Leib und Körper dienlich sein kann: Wenn wir körperliche Zuschreibungen machen, dann ergibt sich bspw. das Problem, dass unsere Hand uns in zweifacher Weise gegeben ist — einmal als Objekt, die konkrete Hand sozusagen, die wir sehen oder als Referenz denken und die wir sprachlich als anatomischen Teil eines Menschen mit dem Wort/Konzept ‘Hand’ benennen können. Auf der anderen Seite ist uns unsere eigene Hand auch als eine Empfindung gegeben — eine besondere Form des Empfindens, da ein solches Empfinden in der Regel automatisch als zu uns zugehörig erlebt wird: ich empfinde meine Hand (gilt auch im Falle eines Unterschieds: ‘Ich empfinde etwas auf meiner Hand’). Ein Begriff dafür ist auch das Erleben von ‘mineness’ (leibliches Erleben körperlicher Zugehörigkeit; u.a. bei Thomas Metzinger zu finden). Die untere Grafik repräsentiert ein Vorhandensein von ‘mineness’ dadurch, dass das Erleben auf gedoppelte Weise immer eine indexikalische Rolle spielt (ist immer an zweiter Stelle und unterscheidet sich in der Inferenzrolle nur durch die Richtung): Entweder erlebe ich Empfindungen (L und E, Schmerzen bspw.) und schließe auf den Körper als Referenz (Rückenschmerzen). Oder ich erlebe körperliches (K und E; “Hand sehe” bspw.) und schließe auf leibliches als Referenz (“meine Hand”; gleiches geht mit Objekten, die nicht zu einem gehören bzw. nicht Teil einer erlebten ‘mineness’ sind (“ihre Hand schmerzt” — von K zu L einer anderen Person bspw.)).
Empfindungen repräsentieren damit als Inferenz/Schlussfolgerung betrachtet eher ein relationales Verhältnis und bspw. keine klare anatomische Information, außer grobe Lokalität und Qualität. Die Unterscheidung in L/E/K ist auch insofern relevant, da sie eben deutlich macht, dass das Verhältnis bzw. der Zusammenhang zwischen erlebten Empfindungen (Leib) und Körper (anatomische Hand bspw.) notwendigerweise ein rein inferenzieller sein muss — das Produkt einer Schlussfolgerung, nicht eines ‘absoluten Einblicks’ (modal ausgedrückt: eine (abduktive) Inferenz ist notwendiger Weise a priori kontingent).
Es ist in mehrerlei Hinsicht nicht neu mindestens indirekt so zu denken, z.B. in der Medizin (abgesehen davon, dass der intellektuelle Diskurs zum Thema “Leiblichkeit” im 20. Jahrhundert schon stattfand (Husserl, Merleau-Ponty, Varela, Thompson…)). Gemeint ist damit bspw., dass Ärzt*innen selbst ohne den begrifflichen Unterschied zwischen Leib und Körper in dieser Form zu kennen oder zu operationalisieren, dennoch indirekt in diesen Unterscheidungen zumindest punktuell denken, wenn es sich als notwendig herausgestellt hat. Der Grund für eine solche indirekte Prägung von Ärzt*innen ist generell betrachtet schlicht die Tatsache, dass Urteile über die Diagnose, Krankheitsentstehung usw. von Patient*innen selbst (sogenannte Kausalattributionen) zwar nicht immer, aber doch sehr häufig schlicht falsch sind — gerade wenn es um wichtige Details geht, oder in Bezug auf die Betonung von — u.a. von Pseudomediziner*innen unnötig geschürten — Sorgen unterschiedlichster Art (in solchen Fällen geht es Patient*innen mitunter öfter eher um die Einordnung der Relevanz der eigenen Sorgen, weniger um das eigentliche Krankheitsgeschehen und die genaue Einordnung des eigentlichen Geschehens). Das Verhältnis zwischen Empfindungen und Erklärungen solcher Empfindungen zu entwirren, gehört zum Alltag von Gesundheitspersonal jeglicher Art. Ein klassisches Beispiel in der Medizin wären ausstrahlende Schmerzen, bei denen sich die Lokalität des Empfindens nicht mit der Lokalität eines pathologischen Prozesses deckt, den man auf andere Wege entdeckt hat oder differentialdiagnostisch entdecken könnte… Ein anderes Beispiel wäre das “Precordial Catch Syndrome”, bei dem Muskeln zwischen den Rippen verkrampfen und sensible Nerven anregen — und dadurch Schmerzen verursachen. Das kann zum einen dazu führen, dass die Verkrampfungen als ein Widerstand beim Versuch zu atmen festgestellt/erlebt werden kann. Zum anderen, wenn solche Schmerzen direkt in Herzregion auftreten, kann es passieren, dass Betroffene Angst vor einem Herzinfarkt entwickeln (bis hin zu Panikattacken). Das Herz selber ist jedoch nicht sensibel innerviert und Symptome eines Herzinfarktes müssen ohnehin nicht direkt in der Gegend des Herzens verortet sein (zentraler Brustschmerz, Oberbauchschmerz…). In solchen Situationen müssen Ärzt*innen den Patient*innen nach einer Untersuchung mit negativen Ergebnis mitunter vermitteln, dass ziemlich sicher kein Herzinfarkt oder ähnliches vorliegt. Viele sind mit solchen Resultaten dann oft unzufrieden, weil die Sorge ggf. bleibt. In solchen Fällen ist es jedoch schlicht notwendig, den Betroffenen quasi eine Unsicherheit über deren eigenes Urteil, die eigene Sorge, zu vermitteln, um Unsicherheiten nehmen zu können — egal wie man sonst noch spezifisch versucht, empathisch auf Patient*innen einzugehen. Menschen, die sich im klaren sind, dass das Verhältnis Empfindung und anatomischer Körper ein inferenzielles ist, kämen mit solchen “epistemisch-relationalen Unsicherheiten” wahrscheinlich besser zurecht und könnten sich besser selbst beruhigen (Angstspiralen könnten von Patient*innen vermieden werden, indem sie ggf. selber die Angstspirale als solche erkennen usw.).
Mit der obigen Unterscheidung zwischen Leib, Erleben und Körper lässt sich kein Weg zu absolutem Wissen beschreiben (was auch immer das sein soll), aber der große Vorteil liegt darin, dass Kommunikations- und Inferenzprobleme bzw. besser gesagt die Inferenzstruktur als solches begrifflich unterschieden und beschrieben werden kann, ohne nur von “richtig/falsch” sprechen zu müssen, wenn es um die Bewertung von Urteilen geht. Damit können sowohl Missverständnisse in der Ärzt*innen/Patient*innen-Kommunikation, als auch Manipulation von Patient*innen durch vermeintliche “Heiler*innen” besser beschrieben werden. Man kann eben nicht, wie man sich selber schnell quasi-kartesisch belegen kann, einfach von der Empfindung auf das Körperliche/”Materielle” schließen. Ebenso kann man eben nicht sagen, nur weil man etwas körperlich konsumiert hat und das Produkt dem Konzept nach eine reale Wirkung in der Welt verspricht, dass auch deshalb bspw. das Fieber oder Schmerzen weggegangen sind. Es besteht keine a priori Notwendigkeit einer geschlußfolgerten Relation zwischen den Empfindungen und dem, was man mit seinem Körper in der Welt gemacht hat. Etwas, das — gerade für Pseudomediziner*innen — schwer zu akzeptieren ist, da man sich nun mal u.U. eingestehen muss, dass man bspw. Menschen gezielt abgezockt hat oder selber einem Wahn aufgesessen ist (was einen verständlicherweise extrem leer zurücklässt, und den doch so wichtigen Triumph über alle Fragen und Probleme, den man in sich selbst erlebt und genießt, komplett ruiniert).
Letztendlich muss man nicht weit suchen und nachdenken, um zu erkennen, wie durch epistemische Verklitterungen, selbst des eigenen Erlebens, pseudomedizinische Ideologien letztlich psychisch-psychosomatische bzw. dissoziative Störungen auslösen können (und sowieso die Möglichkeit nicht-segregistisch zu kommunzieren, massiv beinträchtigt) und/oder für die ideologische Zwecke funktionalisiert werden — bspw. durch Produkt- und Prozederebindungen, mit dem Versprechen, dass a priori notwendigerweise eine (Kor-)Relation zwischen Empfindungen in Form einer erlebten Besserung (Leib) und dem Produkt bestehe (Körper/Materie; was dazu führen kann, dass das eigene Erleben von Unsicherheit in Bezug auf eine versprochene Wirkung zu gunsten einer Ideologie in Frage gestellt wird, weil muss ja wirken… (manipulative Verschiebung der Beweislast)).
Das obige Konzept lässt sich philosophisch betrachtet generell als ein pragmatisch-phänomenologisches Konzept verstehen, dass zum einen Inferenz im Sinne von C.S. Peirce als Abduktion beschreibt, und auf der anderen Seite das phänomenologische Verhältnis zwischen L/E/K als einen solchen abduktiven Inferenzkurs beschreibt. Eine solche Auffassung von “Kognition” existiert auch in der Neurowissenschaft und steht im engen Bezug zu den eigentlichen Anfängen von dem, was man heute allgemeine Systemtheorie nennt, bspw. in Form des biopsychosozialen Krankheitsmodells. Leider ist aufgrund von technischen Limitationen der Diskurs in den 80ern und 90ern ins eher philosophische bis esoterische abgedriftet — Diskurse, aus der auch die ganze Achtsamkeitsbewegungen hervorgingen. Für eine kritische Betrachtung diesbezügliche siehe u.a. dieses Interview mit Evan Thompson über sein Buch “Why I’m not a Bhuddist”. Erst in den letzten Jahren, seitdem bspw. Machine-Learning Modelle zumindest prägende Erwartungen und einen nicht zu ignorierenden Hype geschaffen haben, ‘because it sort of works’ — und ohnehin seitdem technische Limitationen in der KI-Forschung eine geringere Rolle spielen als bspw. in den 90ern — hat man sich wieder mehr einem sowohl wissenschaftlichen mathematisch-physikalischen, als auch einem kommunikationstheoretischen Begriff von Information und Systemtheorie gewidmet (Stable-Diffusion Modelle können bspw. als erweiterte Informationstheorie verstanden werden, im Bereich computational neuroscience stellt active inference / predictive processing die derzeit wahrscheinlich kohärenteste und direkteste Erweiterung klassischer Kybernetik/Systemtheorie/Informationstheorie dar, die sowohl physikalisch, als auch konzeptuell plausibel und überprüfbar ist — ebenso basierend auf Abduktion als primäres “kognitives” Inferenzprinzip (Bayesian Statistics)).
Abgesehen von verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten, lässt sich von dem Verhältnis L/E/K als inferenziell auch eine Ethik der Kommunikation ableiten: da jegliches Urteil über uns und die Welt a priori das Produkt von abduktiver Inferenz ist (sonst hätten wir absolutes Wissen), d.h., notwendigerweise initial kontingent sein muss, kann ein Kommunikationsakt nur dann als Kommunikation und nicht bspw. als Exkommunikation verstanden werden, wenn a priori von einer relationalen Gleichheit einer solchen Inferenzstruktur ausgegangen wird, unabhängig von der Referenz des Menschen als solchem (bspw. Herkunft, konkrete Überzeugung, Hautfarbe, d.h. visuell-körperliches; ein deskriptiver sowie normativer Ansatz — der Sache nach unabhängig von Glaubenssystemen). Genau aus diesem Grund kann man ganz klar sagen, dass Menschen, die aktiv derartige epistemische Verhältnisse verklittern wollen, indem sie behaupten, dass sie a priori “mehr wissen könnten als andere Menschen” oder “menschlicher” seien als andere, dass sie “Energien empfinden” oder sonst irgendwelche Versprechen leisten können, aktive Segregation der Gesellschaft betreiben und deshalb deren Hauptaufgabe vor allem darin besteht, die eigene Attitüde, das eigene Paradigma als vermeintlich fortschrittlich oder gar “menschlicher” darzustellen, obwohl eben genau jene Menschlichkeit — die abduktiv-explorative Natur des Menschen — a priori im anderen und sogar in einem selbst abgelehnt wird. Daher auch der Versuch, Kreativität als solche ideologisch einzunehmen. Selbst Kirchen waren und sind auch nichts anderes als ein imposantes und möglichst suggestives Theater mit ideologisch kontrollierten Inhalten…
Ebenso wie Glaubenssysteme im Allgemeinen automatisch die wissenschaftliche Methode (= letztlich sophisticated Abduktion) früher oder später konzeptuell verwerfen müssen, um selber bestehen zu können, so müssen Repräsentanten solcher Ideologien letztlich früher oder später direkt andere Menschen in ihrer Urteilskraft an sich abwerten und ausschließen — bspw. in Form einer entmenschlichenden, dichotomisierten Darstellung von “Schulmediziner*innen” — oder eben in “Gläubige” und “Ungläubige” (gerade auch, weil pseudomedizinische Konzepte regelrecht den Status einer Religion beanspruchen, mitsamt all den dazugehörigen und problematischen Sonderrechten). Das redundante voranstellen einer letztlich referenziellen Ungleichheit (Dichotomien, Begriffssysteme usw.), anstatt einer relationalen Gleicheit (jeder betreibt primär Abduktion) in der Kommunikation markiert solche segregistischen Momente.
Wie ich hoffentlich zeigen konnte, resultiert das Urteil dieses Essays eigentlich vor allem aus einem konsequenten inferenziellen Holismus heraus, der die wissenschaftliche Methode nicht nur als solche den Pseudowissenschaften gegenüberstellt, sondern auch zeigt, inwiefern man im Grunde von der Anwendung des gleichen Inferenzprinzips (Abduktion) auf verschiedensten Komplexitätsebenen transparent wechseln kann, weil wir es selber der Sache nach betreiben, mit all den Problemen, die damit einhergehen können (anstatt Elfen, Götter oder Steine der Weisen zu evozieren, um vor diesem Usmtand ggf. zu flüchten…). Das ist es, was letztlich das ‘Biopsychosoziale Modell’ ursprünglich sagen wollte — nicht, dass Holistik bedeute, möglichst manipulativen und vor allem beliebigen Konzepten Raum im Gesundheitswesen zu geben und als Mehrwertetikett zu vermarkten…
In der Philosophie haben Armen Avanessian und Anke Hennig Konzepte von C.S. Peirce schon auf grandiose Weise mit phänomenologischen Konzepten verbunden und mich zu obigen Überlegungen inspiriert. Zudem werden seitens der Autor*innen u.a. auch Bezüge zu Thomas Metzingers Unterscheidung zwischen “transparency und opacity” und der Neurowissenschaft hergestellt (siehe weiter unten für eine Definition des letzteren). Ziel der Autoren war es, eine “meta-noiesis” bzw. eine Metanoia, ein “Neudenken”, bspw. im Zuge eines Erkenntnismomentes, strukturell qua Abduktion zu beschreiben. Gemeint ist mit Metanoia ein Phänomen bzw. Erleben, dass klassischerweise bspw. Gegenstand von “Coming-of-Age” Romanen ist — Motive wie der Verlust kindlicher Freiheit, Unschuld und die Konfrontation mit neuer Verantwortung, neuen Umständen. Ein klassisches Beispiel wäre der Film “Stand by me”, basierend auf einer Kurzgeschichte von Steven King. Der Film beschreibt das Motiv einer Art Pilgerschaft, die die Protagonisten “fundamental verändert”, und in dem drastischen Erlebnis, einen verstorbenen Menschen gesehen zu haben, mündet. Beschrieben wird mit Metanoia eine Inferenz (noiesis) bzw. allgemein ein Erleben als Konsequenz eines Erlebnisses, das dazu führt, dass die Welt nicht nur in Bezug auf die Zukunft, sondern auch in Bezug auf die Vergangenheit als biografisches Narrativ als verändert oder eben “vergangen”/”vorherig”, bzw. neugedacht erlebt wird (“Das Vorher ist Nachher ein anderes.”; eine Differenz zwischen dem alten und neuen Modell der Welt / des Selbst). Daher kann man bspw. ein Buch nicht zweimal zum ersten mal lesen, weil das erste Lesen des Buches uns verändert hat (wir verlieren bspw. nicht die komplette Erinnerung an das erste Leseerlebnis; es kann daher auch sein, dass ein Text beim zweiten Lesen ganz anders wirkt, oder “ferner” als beim ersten Lesen…).
Formeller lässt sich die Aussage “Das Vorher ist Nachher ein Anderes.” auch als die Aktualisierung einer Hypothese verstehen, eines inferenziellen Modelles der Welt — in Bezug auf Statistik/Wahrscheinlichkeitstheorie (Abduktion als Bayes’ rule): — das a posteriori wird das neue a priori für zukünftige Schlussfolgerungen (ein abduktiver bzw. heuristischer Lernalgorithmus). Konzeptuell wird ein abduktiver, zyklisch-rückgreifender Inferenzprozess auch häufiger als ein rekursiver Prozess bezeichnet (weil eine Iteration der gleichen abduktiven Methodik/Inferenzstruktur (folgt auch dem regelrecht existentialistisch anmutendem Prinzip der systemischen Biologie: “erst die Struktur, dann die Funktion”, nicht weil man mit einem Schnabel Hülsenfrüchte knacken kann, haben Vögel einen solchen entwickelt, sondern weil es der Struktur nach möglich war, einen solchen zu entwickeln, hat sich ein solcher entwickelt, wobei auch das entsprechende Angebot an Hülsenfrüchten dabei eine Rolle spielt, dass eine solche Tatktik erfolgreich ist (hier kommt sozusagen noch das Prinzip Evolution ins Spiel))). Begriffe wie ‘differánce’ in der Philosophie (Derrida) bezeichnen etwas sehr Ähnliches.
Inspiration fanden Avanessian und Hennig für die Arbeit an dem Konzept Metanoia in Diskursen zum Thema Poetik und Ästhetik bzw. Poesie und Begriff (eine Diskursreihe um 2012/2013 herum), sowie gegenwärtige Poetiken von Lyriker*innen aus dem Umfeld des kook books Verlag (z.B. die Poetik ‘Helm aus Phlox’ (Merve Verlag 2011), mit Beiträgen von Ann Cotten, Monika Rinck, Daniel Falb, Steffen Popp…).
Interessanterweise ähnelt die Beschreibung eines metanoietischen Erlebnisses auch einem allgemeinen Begriff des Derealisations- und Depersonalisationserlebens (DR/DP), bzw. der Beschreibung dessen Kontinuität (siehe auch u.a. diese Arbeit von Anna Ciaunica zu dem Thema im Allgemeinen; im deutschsprachigen Raum forschte Matthias Michal viel zur DR/DP, verfolgt aber eher eine psychodynamischen Ansatz).
Verkürzt gesagt zeichnet sich ein solches Erleben dadurch aus, dass relational alles als ‘fremd’ oder ‘leer’ oder ‘entfernt/distant/latent’ erlebt wird — in Bezug auf den eigenen Körper ein leibliches Erleben, bei dem genau jene zuvor erwähnte ‘mineness’ ausbleibt, sodass die eigne Hand so wirkt, “als ob sie nicht die eigene sei”. Anders gesagt, alles wird als rein objekthaft/körperlich wahrgenommen, obwohl man auch ein leibliches (subjektives) Empfinden erwartet (dieses aber wie latenten/distant erscheint). Wichtig ist hierbei, dass es sich rein um ein leibliches bzw. relationales Erleben handelt (bzw. ein azusbleiben dessen) und das Urteile über ‘Referenzielles’ sich nicht verändert, d.h., man weiss (epistemisch), dass die Hand der eigene Körper ist, auch wenn das leibliche Empfinden von ‘mineness’ oder relationaler Zugehörigkeit ausbleibt, oder ‘entfernt’ erscheint (= epistemische Realitätsprüfung bleibt vorhanden, daher ungleich Schizophrenie/Psychose, und anders als sonstige Wahnideen). Wie beim Erleben von Kippfiguren, ist man sich im klaren, dass die Ambiguität von “einem selbst” ausgeht und nicht wirklich an der Welt liegt, die sich verändert hätte. Es treten also bei einer akut erlebten DR/DP keine Halluzinationen auf oder ähnliches, auch keine Paranoia darüber, dass jemand etwas im Raum umgestellt hätte oder ähnliches und deshalb alles fremd wirke... Anders gesagt, die Betroffenen erleiden keinen sogenannten “Realitätsverlust” (= verklitterte epistemische Inferenzverhältnisse).
Interessanterweise ist das deutlichste “Symptom” einer DR/DP, wenn man sich bspw. die ICD-10 oder DSM-V Definition (ab 3.1, S. 7f.) ansieht, dass Betroffene Aussagen wie die eben beschrieben machen (sprachlicher Ausdruck als Symptom, sozusagen). Anders gesagt, die Definition einer DR/DP besteht hauptsächlich aus den Aussagen der Betroffenen, die zudem häufig auf rhetorisch deutliche Weise eine vermeintlich tautologisch-widersprüchliche Struktur aufweisen. ‘Es wirkt so, als ob ich alles von außen betrachten würde, wie im Theater, aber nicht wirklich wie im Theater, nur als ob.’ — so in etwa klingt es, wenn Betroffene ihr Erleben zu beschreiben versuchen. Etwas formeller kann man auch hier einen Kippeleffekt in den Aussagen feststellen. Das Ausbleiben der ‘mineness’, die sonst als selbstverständlich erlebt wurde und von den meisten Menschen auch als selbstverständlich erachtet wird, führt dazu, dass man ein solches Fehlen von ‘mineness’ rhetorisch nur durch das Einfügen einer Redundanz halbwegs sinnvoll vermitteln kann (diese vermeintliche relationale Doppelung im DR/DP-Erleben: “das Erleben eines Erlebens”). Kurz gesagt, die Aussagen sind nicht wörtlich so gemeint, wie das mitunter bei Menschen mit akuten Psychosen der Fall ist. Es besteht nicht die Annahme einer gottgleichen 3. Person Perspektive, sondern einer rein relationalen 3. Person Perspektive, die alles eher wie eine Metapher oder korrekterweise wie eine unvollständige Metonymie, ein unvollständiges Kontiguitätsverhältnis (= “Relation”) erscheinen lässt (auch die Subjekt-Objekt Struktur von Sprache spielt eine Rolle, weswegen man derartige rhetorische Moves zurückgreifen muss, um ein DR/DP-Erleben beschreiben zu können; nicht alle Menschen nutzen diese Rhetorik, und da sich viele Aussagen auf eine raum-zeitliche Distanz/Latenz berufen, stellt sich die Frage, wie und ob bspw. (kongenital) blinde Menschen derartige Erlebnisse ausdrücken — diese Frage stellt sich auch in Bezug auf Schizophrenie: haben Menschen, die kongenital Blind sind auch visuelle Halluzinationen und überhaupt Schizophrenie? Sieh bspw. Morgan et al.). Wissenschaftlich betrachtet ist das besondere der DR/DP m.E. auch, dass der Ausdruck eines solchen Erlebens aufzeigt, dass gängige psycho-linguistische Verfahren (natural language processing jeglicher Art) für die Erfassung solcher Umstände/Effekte nicht ausgelegt sind (reflektieren nur Sprache für sich bzw. singuistische Systeme, nicht den Akt des Ausdrucks des eigenen Erlebens). Die Erforschung und Reflektion solcher Effekte in der Kommunikation hat daher großes Potential, die Beschreibung und Kommunikation von dissoziativen Erlebnissen jeglicher Art deutlich transparenter zu machen.
DR/DP als ein erleben einer unvollständigen Metonymie kann verstanden werden als das Wegfallen des “Glaubens” an eine synekdochische Ganzheit der Teile — ein plötzlich auftretender quasi-philosophischer Umstand, der sich eben deutlich in der Ausdrucksweise von Betroffen widerspiegelt. Leider führen solche, potenziell kippelnden Beschreibungen einer primären DR/DP oft zu diagnostischen Missverständnissen und Unsicherheiten (vgl. bspw. Sierra et al. 2009). Eine DR/DP kann auch am Anfang einer Schizophrenie/Psychose auftreten (im Prodromalstadium; dabei is sie m.E. eher als (ichdystone = abgrenzende) Reaktion auf das befremdlich veränderte eigene Erleben zu verstehen, passend zu der Angst, verrückt zu werden bei primärer DR/DP (d.h. nicht im Rahmen einer Schizophrenie); mit zunehmendem Verlauf der Schizophrenie, verliert sich diese “Fähigkeit” wieder in eine intakte Realitätsprüfung zu kippel (ichsyntonie = (den Wahn) annehmend)).
Nimmt man die Aussagen der von DR/DP Betroffenen übrigens wörtlich, so macht man rein inferenziell betrachtet den gleichen Fehler wie jemand, der konkretistisch inferiert (d.h. etwas “metaphorisches” wird wörtlich verstanden bzw. der “als-ob” Aspekt übersehen, siehe bspw. Brita Elvevåg et al.). Auch Menschen mit Schizophrenie werden das öfter erleben, dass Menschen, im Wissen um die Diagnose, ab und an Aussagen der Betroffenen als zunächst oder generell wahnhaft einordnen, obwohl akut gar keine Psychose besteht, man nur etwas missverstanden oder nicht genau verstanden hat — Effekte, die sich aus der Verunsicherung im Umgang mit Schizophrenie als solche ergeben können (ich hoffe jedoch, dass ich zeigen konnte, dass man solche Unsicherheiten auch relativ transparent beschreiben kann). Die sekundäre DR/DP tritt übrigens bei einer Vielzahl von anderen Diagnosen auf. Meine These wäre hier, dass solche Symptome ggf. Auskunft über den Verlauf geben sowie therapeutisch nutzbar ist (vgl. bspw. DR/DPs Rolle als transdiagnostic target). Auf der anderen Seite ist es auch so, dass die Kontinuität eines solches Erlebens punktuell auch etwas ist, dass wir selber wünschen, bpsw. wenn wir uns aktiv abgrenzen wollen, um bspw. “mal etwas Neues zu erleben” und zu sehen... Klinisch wird ein solches Erleben relevant, wenn man quasi die Kontrolle darüber verliert und dann auch meist Angst und Verunsicherung über das Erleben eine Rolle spielt. Auf der anderen Seite ist ein “distanzierter Blick” auf das eigene Erleben auch etwas, dass bspw. das Ziel einer Psychotherapie darstellt und daher eben auch relevant wäre für die Einschätzung eines Krankheits-/Therapieverlaufs (z.B. Distanz zu Zwängen bekommen, um eigenständiger Leben zu können). Dass der Effekt selber das DR/DP-Erleben beschreibt, ist hierbei vielleicht nochmal ein entscheidender Hinweis, erkennbar u.a. an Aussagen wie “als ob ich tot wäre (auch wenn ich weiß, dass ich am Leben bin)”. Ob nun als Metapher verstanden oder nicht, in jedem Falle ist es immer ein Widerspruch, wenn jemand (lebend) sagt, “ich bin tot” — ein ähnlicher Effekt tritt auch beim Lügnerparadoxon auf (“Ich lüge.” — ist diese Aussage nun die Wahrheit oder eine Lüge, oder beides zugleich, auch wenn es tautologisch-widersprüchlich erscheint?). Das Konzept Tod ist für uns etwas, dass, wenn wir uns bspw. versuchen uns selbst als Tod (nicht als sterbend) vorzustellen, uns automatisch absurd erscheint, da wir sofort auf unsere eigene Lebendigkeit zurückgeworfen werden (Tod schließt Erleben aus, sozusagen; das gleiche Erlebnis hat man, wenn man eine Leiche sieht, da man sich sofort in einer nicht-privaten Situation, die soziale Interaktion erfordert, wähnt, aber dann eben auf die eigene Lebendigkeit zurückgeworfen wird — bspw. im Rahmen des Anatomiekurses im Medizinstudium). Auch Fragen wie “woher kommt Platz/Raum” oder intensive Introspektion können ein ähnliches, fast dröhnendes Empfinden und Erleben für kurze Momente auslösen, oder schlicht Übermüdung/Kater — und sowieso spielen Filme und generell Geschichten viel mit solchen Effekten. Tod ist somit, ähnlich wie das Erleben von ‘mineness’ etwas, dass wir letztlich nur ex negativo begreifen können als das Gegenteil oder Fehlen von Leben (das Gegenteil oder Fehlen/Ausbleiben von “Selbstzugehörigkeit”; im letzteren Falle könnte man von einer Latenz der Selbstzugehörigkeit sprechen, sowohl zeitlich (“vergangen”) als auch räumlich (“wie von außen”), anstatt von einem Ausbleiben, da bei einer DR/DP eben die Realitätsprüfung vorhanden bleibt, d.h. eigentlich nicht fehlt; in mancherlei Hinsicht lässt es sich auch als Erleben von Desillusion beschreiben, d.h. als würde man aus einem Wahn/Glauben ausgetreten sein…).
Avanessian und Hennig sprechen im Zusammenhang von Abduktion auch von zwei Betrachtungen auf das, was wir Urteil nennen (zwei Seiten der noiesis = Urteil): die poietische Perspektive (poiesis = machen, erzeugen, kreieren) und die aesthetische Perspektive (aeiesthesis = Wahrnehmung; in der Systemtheorie ist der Autopoiesis- und Autonomiebegriff etwas, das häufig zur Beschreibung von Leben herangezogen wird: sich selbst machen / erzeugen, bzw. erhalten / von der Umwelt abgrenzen = autopoiesis). Thomas Metzinger unterscheidet hierbei zwischen opacity und transparency und meint damit etwas sehr Ähnliches (und weist auch auf den Umstand der Subjekt/Objekt-Struktur von Sprache hin, wenn es darum geht bspw. Berichte von Schlaganfallpatient*innen zu deuten, bei denen ähnliche Probleme gibt, relationale Verhältnisse des aberranten Erlebens zu deuten). Die aesthetische Perspektive betrifft quasi das, was man wahrnimmt im Sinne von Sehen bzw. unserer körperlichen Repräsentation bspw. — eine referenzielle 1. Person Perspektive quasi. Die poietische Perspektive (relationale 3. Person Perspektive) ist jene, die wir einnehmen, wenn wir nicht in die Immersion eines Filmes bspw. aufgehen, sondern uns fragen “wie wurde es gemacht” (Poetik des Films).
In Filmen wird mitunter mit beiden Perspektiven zugleich gespielt. Ein eher weniger subtiles Beispiel wäre ein Abschnitt des Filmes “12 Monkeys”, in der Bruce Willis durch die Zeit reist, dann in einem Krankhaus erzählt, dass er Zeitreisender ist und ihn dann alle für “verrückt” halten, obwohl man in Bezug auf die ‘Realität des Filmes’ zumindest weiß, dass er “die Wahrheit sagt”. Auch dort wieder ein Kippeln zwischen der konkreten/aesthetischen und der relationalen/poietischen Perspektive durch das Einfügen von strukturellen Redundanzen. Zugleich wird auch ein Motiv verwendet, dass häufig im Film in Bezug auf Medizin/Psychiatrie bemüht wird: dass das Urteil, die Schlussfolgerung der anderen, z.B. das von Psychiater*innen, eigentlich “verrückt” ist und nicht das eigene (eine fiktionale, aber in der Konsequenz nicht unbedingt günstige Spielerei mit der Unsicherheit — wie gesagt, es geht nicht darum, dass man einfach alles abnickt, sondern dass solche Ängste die Kommunikation mitunter stark beeinträchtigen können). Zumindest spielt der Film “12 Monkeys” gezielt mit derartigen Unsicherheiten in Bezug auf die Möglichkeit einer Fehldiagnose, die dazu führt, dass im Nachhinein “alles ganz anders ist”, wenn man nur den Blick ändert — interessanterweise wird das Motiv genutzt, um letztlich der ‘Realität des Films’ bzw. dem fiktionalen Sujet und dessen Dramatik noch mehr Gewichtung zu verleihen (“Wo ein Willis ist, ist auch ein Weg.”, hieß es im Privatfernsehen früher…). Der Film “12 Monkeys” ist dabei ein einfaches, wenn auch eher weniger subtiles Beispiel dafür, wie ein flexibles Kippeln epistemisch-inferenzieller Verhältnisse Kreativität als solches ausmacht, auch bei der reinen Rezeption von Kinst jeglicher Art (DR/DP-Erleben und Symptome der Schizophrenie und Psychose erscheinen dabei als Extreme solcher “epistemischer Kippeleffekte”).
Würden wir die “als-ob” bzw. Meta-Ebene eines solchen Films “12 Monkeys” bspw. entfernen, d.h. tatsächlich glauben, dass der Film Realität abbildet, dann würden wir ggf. den Film als eine Referenz für eine Verschwörungstheorie heranziehen, in der die Psychiatrie zu Gunsten des “Systems” u.a. gezielt Zeitreisende pauschal als krank abstempelt, ebenso Wahrsager*innen, Götter und Menschen mit besonderen Fähigkeiten... Aus der fiktionalen Spielerei, sich eine Realität des “was wenn es doch wahr wäre / was wäre, wenn…” vorzustellen (die Fähigkeit zu kontrafaktischen Vorstellungen), wird eine Realität, über die “nur keiner spricht, aber sicher wahr ist” (man könnte hier auch zwischen einer notwendigen Redundanz, für den korrekten Ausdruck des Erlebens der eigenen abduktiven Relationalität (aesthesis der poiesis), und einer nicht-notwendigen Redundanz unterscheiden (durch die poiesis und aesthesis ununterscheidbar equivalent gesetzt und nicht kontiguitiv betrachtet werden; fachlicher gesprochen: Eine relationale hierarchische Ebene entfällt und aus einem metonymisch-kontiguitiven Verhältnis als erlebten (externen) Referenz wird ein heterarchisches synechdochisch-equivatorisches Verhältnis (Vorstellung = Realität), was sich dann bspw. in Form von Konkretismus als epistemische Verzerrung äußert (bspw. in der Schizophrenie); im Englischen wird die Redundanz, die sich in Aussagen eines “Erlebens des Erlebens” im Ausdruck des DR/DP-Erlebens widerspiegelt, deutlicher, insofern der Begriff “body” / Körper gedoppelt als je subjektiv und objektiv betrachtet und differenziert wird — notwendiger Weise, um die Relationalität als solche korrekt übertragen zu können in einer Kommunikationssituation via einer Sprache, die nur S-P-O Verhältnisse erlaubt).
Zu all dem hätte ich noch tausende Beispiele, Ideen und Gedanken parat und könnte dieses Kapitel noch gefühlt ewig weiterführen… Zum einen, weil ich denke, dass ein besseres Verständnis unseres eignen Erlebens von Leiblichkeit und Körperlichkeit die Kommunikation deutlich verbessern würde, nicht nur in der Medizin und in Bezug auf das, was Wissen und das, was Glauben ist. Zum anderen denke ich auch, dass gerade ein besseres Verständnis von DR/DP-Erleben sowie dem Unterschied zur Schizophrenie dazu führen würde, dass wir uns selbst als schlussfolgernde Menschen besser verstehen würden — und allein dadurch schon automatisch besser mit Pseudowissenschaften kritisch umgehen würden.
Am Ende möchte ich nochmal kurz darauf hinweisen, dass gerade das Spiel zwischen Ästhetik und Poetik nochmal zeigt, wie leicht und daher wie gefährlich die intransparente Manipulation inferenzieller Verhältnisse sein kann — und wie gerade die Kreativität darunter leidet und vollkommen von als “absolut wahr” verklärten Ideologien okkupiert werden muss, um wahr zu bleiben. Ethisch gesehen habe ich dafür nur noch tiefe Verachtung übrig, muss ich gestehen.
Ich hoffe, dieser Essay kann einen Beitrag dazu leisten, Kommunikation über Wissenschaft innerhalb der Gesellschaft zu verbessern und konfrontativer gegen antiwissenschaftliche/-demokratische Strukturen vorzugehen, deren einziges Interesse es ist, auf segregistische Weise wissenschaftliches Denken durch eine relativistische Hegemonie auszutauschen, sodass Hochstaplerei von Wissenschaft nicht mehr unterschieden werden kann. Auf der anderen Seite hoffe ich auch, dass dieser Essay gerade auch die “poietische Perspektive” von Wissenschaft verdeutlichen konnte — auch um zu zeigen, wie gerade kritisches Denken ein kreatives Denken darstellt, auch wenn viele, getrieben von ins Handeln eingeschriebenen Dichotomien, nicht nur nichts davon wissen wollen, sondern schon aufgrund ihres segregistischen Paradigmas nicht einmal daran glauben können, dass Kritik möglich und sinnvoll sei.
Um abschließend noch einmal zu demonstrieren, dass verklitterte Verhältnisse im Gesundheitswesen natürlich schon länger bestehen, hier ein kurzer Einblick in die geschichtlich bizarr-ironische Bekanntschaft von Gert Postel, einem Postboten, der sich als Psychiater ausgegeben hatte, und Wolfgang Wodarg, der als ehemaliger Arzt während der Covidpandemie schon relativ früh damit angefangen hatte, wirre Falschinformationen via YouTube-Videos zu verbreiten…